h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Ariel vom Berge.

Der Donner rollte durch die Schluchten der Allgäuer Alpen und verschluckte sogar das Prasseln des Regens auf den Fels und die Hänge. Ich war froh, dass uns die kleine Hütte zumindest ein Dach über dem Kopf bot, und wir hoffentlich unsere Ausrüstung trocknen konnten. Fröstelnd schaute ich aus der offenen Tür und beobachtete staunend, wie der Kiesweg hinunter zum Schrecksee immer tiefer unter Wasser stand. Selbst wenn unten am Ufer drei nackte Mädchen in eindeutiger Pose auf mich warten sollten, hätte ich mich jetzt nicht überwinden können, dort hinaus zu gehen.

Die schweren Gewitterwolken verdunkelten den Himmel und tauchten die Welt rund um den See in graue Schatten, aber Blitze zuckten in raschen Abständen und illuminierten die mächtige Kulisse der schartigen Gipfel ringsherum in unregelmäßigen Abständen. Mir standen die Haare zu Berge, denn die Luft war buchstäblich elektrisiert. Als ich mich abwenden und in die behagliche, von einem mühsam entfachten Kaminfeuer erwärmte Stube zurückkehren wollte, sah ich, dass ein Blitz in einen einsamen Baum auf der kleinen Insel inmitten des Bergsees einschlug, und Rauch über dem Wasser aufstieg. Bei einem zweiten Hinsehen glaubte ich, drei Mädchen im flackernden Schein des brennenden Baumes zu erkennen, und den Tod verachtend machte ich mich wider besseren Wissens doch auf und rannte den Weg hinunter, um ihnen zu Hilfe zu eilen. Doch als ich völlig vom Regen durchnässt am Rande des Sees angelangt war, wurde mir bewusst, dass ich ohne Boot oder andere Hilfsmittel nicht zur Insel übersetzen konnte. Auch war dort mit einem Male niemand mehr zu erblicken und es blieb nichts als der Rauch und das höhnische Lachen der Wilden Fräuleins in der Luft und in meinem Kopf.

Die Sonne schien in das Fenster der Gaststätte in Hinterstein am Fuße des Hochvogels. Der dritte Becher Jagertee an diesem späten Nachmittag stand vor mir, und die von ihm aufsteigenden alkoholischen Dämpfe bissen in meine Nasenschleimhäute. Ich saß alleine hier, denn Niklas, meine Wanderbegleitung, würde erst am kommenden Morgen eintreffen. Dann wollten wir gemeinsam unsere ersten beiden Zweitausender bezwingen. Obwohl ich uns als gut vorbereitet betrachtete, konnte ein wenig abschließende Recherche vor Ort nicht schaden. Das Lokal war gut gefüllt, so dass ich mich zunächst zu einem fremden Pärchen und einem alten Herrn an den Tisch gesetzt hatte. Die anscheinend jung verliebten waren eifrig mit sich selbst beschäftigt, und nachdem die beiden ihre Becher geleert hatten, standen sie auf und hatten es wohl eilig, die Qualität der Matratzen zu überprüfen. Ich nippte an meinem Jagertee, musterte mein Gegenüber und hatte endlich die Gelegenheit und auch den Mut angetrunken, ihn kumpelhaft anzusprechen.

„Du bist doch wohl schon ein oder zweimal im Berg gewesen“, fragte ich schließlich den geschätzte neunzig Jahre alten furchigen Allgäuer mit langem weißen Bart, der eine lange Meerschaumpfeife rauchte und mir bislang schweigend gegenüber gesessen hatte. Vermutlich konnte man ihn mit verbundenen Augen rückwärts das Gaishorn oder den Schneck hinaufsteigen lassen, und er würde unbeschadet auch wieder hinabsteigen und nebenbei noch einige Edelweiß finden, wo es gar keine gab. Der in hiesiger Tracht Gekleidete sah aus, als ob er alle Klischees zu erfüllen vermochte. Er hob die buschigen weißen Augenbrauen und warf einen Blick auf mich Frischling, der nicht völlig abweisend schien, und so fuhr ich forsch fort. „Du hast doch schon mal ein richtiges Gewitter im freien Feld erlebt? So dass Du Angst haben musstest, vom Blitz getroffen zu werden, und du nie mehr von oben zurückzukehren kannst?“

Der Alte sog stoisch und unbeeindruckt an seiner Pfeife, die Tabakglut erleuchtete seine knollige Nase kurz, dann stieg der Rauch hoch und hüllte sein runzliges Gesicht in feine weiße Schwaden. Als sie sich verzogen hatten und die Sicht wieder halbwegs frei war, blinzelte er mir einmal zu.

Die dralle Kellnerin kam zu uns und fragte, ob wir einen weiteren Jagertee wünschten. In meiner Anspannung bejahte ich und wartete ungeduldig auf die Antwort des Naturburschen. Seelenruhig dozierte dieser:

„Wenn du trotz aller Wetterwarnungen und überhaupt gegen jeden gesunden Menschenverstand am Berg in ein Gewitter geraten solltest, dann setzt du sich am besten aufrecht auf den Boden, umfasst die Knie mit beiden Händen und hältst die Füße beieinander. In deiner nächsten Umgebung darfst du nicht der höchste Punkt sein. Und wenn du schon rennen musst, dann mit kleinen Schritten, denn die Schrittspannung kann tödlich sein. Selbst die Kühe auf den Almen fallen manchmal bei Blitzeinschlag tot um, weil sie nicht darauf achten. Sie wissen das ja genau genommen auch nicht, aber ihr Gespür geht bei schwerem Wetter eben manchmal verloren. Du darfst dich auch nicht gegen die regennassen Felsen lehnen, und alle Metallteile den Hang abwärts entsorgen. Dosenöffner, Gürtelschnallen, Steigeisen. Auch die Piercings. Du hast doch welche irgendwo?“, fragte er mich mit einem Zucken in seinem von einem dichten weißen Bart umwucherten Mundwinkel, welches ein nicht eben angenehmes Grinsen andeutete.

Ich hatte mir kürzlich erst die linke Brustwarze piercen lassen, aber das musste er ja nicht unbedingt erfahren. „Äh, nein, habe ich nicht. Du hast also noch nie den Donner durch die Täler rollen hören und musstest dich vor dem Blitz verstecken?“

Die Zenzi kam mit zwei dampfenden Bechern an und servierte sie uns, und der Jagertee arbeitete offensichtlich bereits fleißig in mir.

„Doch, das ist schon einmal passiert. Aber ich kann dir nur empfehlen, das nicht zu versuchen.“
Er zündete seine Pfeife wieder an, sog einige Male, und versteckte sich wieder hinter den Rauchschwaden. Für eine Weile blieb er dort versteckt, wie von seinen eigenen Gedanken verborgen. Ich blies den Nebel von meinem Becher und nippte an dem heißen Gebräu.

„Doch denk dran, wenn du die Windnüschl siehst oder auch nur ihre Stimme hörst, dann kann es schon zu spät sein.“ Damit verfiel er wieder in grübelndes Schweigen. Ich starrte aus dem Fenster in den blutroten Sonnenuntergang. Dabei fiel mir etwas ein, was ich in einem der Reiseführer gelesen hatte.

„Entschuldige, dass ich noch einmal störe, aber was hat es eigentlich mit den Wilden Fräuleins auf sich?“ Es dauerte seine Zeit, doch dann setzte er den Becher an die Lippen, nahm einen ordentlichen Schluck, beugte sich beinahe verschwörerisch zu mir und begann zu erzählen.
„Damals, als ich noch ein Jüngling war, auch wenn das schon allzu lang her ist, da wohnten die Wilden Fräuleins nicht weit von hier in einer Felsengrotte. Man sah sie nicht oft, aber sie waren immer dort, und sie waren uns allen wohlgesonnen, und wir lebten in friedlicher Eintracht. Eines Tages war ich allein auf der Wanderschaft in der Nähe des Stuibenkopfes und sah dort ein wunderschönes Fräulein, sprach sie an, und wir verliebten uns nach nur wenigen Worten und Blicken.“ Er hielt inne, wir tranken beide von unserem Jagertee, dann fuhr er fort.

„Die Hochzeit fand nicht lang darauf statt, auch wenn meine Eltern sich stets dagegen aussprachen. Meine Geliebte war ihnen nie geheuer. Und eines Tages bekamen sie ihren wahren Namen heraus.“ Verwirrt blickte ich von meinem Becher auf, in den ich verträumt geblickt hatte, während ich ihm zugehört hatte.

„Und, was war daran so schlimm?“

„Nun, wenn ein Dorfbewohner den richtigen Namen laut zu einem der Wilden Fräulein sagte, dann war es ihnen augenblicklich und für immer untersagt, weiter unter uns im Tal zu leben. Und so verschwand sie denn auch, und niemand hat sie jemals wieder gesehen. Doch werden wir sie nie vergessen, und ich am allerwenigsten. Und ich habe nie mehr einen Fuß in das Haus meiner Eltern gesetzt, so wie ich auch nie wieder mit ihnen nur ein Wort gewechselt habe. Immerhin, wir andern aus dem Dorf haben eine Tafel zum Gedenken für sie aufgestellt, vor ihrer Wohnung in der Höhle, nicht weit von hier.“ Mir standen ein paar Tränen in den Augen, aber das konnte auch an den Jagerteeschwaden liegen. Ich nickte traurig, aber dann fielen mir wieder die Erfordernisse für den morgigen Aufstieg ein.

„Das rührt mein Herz, wirklich. Doch was ist mit der Windnüschl, was soll denn das?“ rief ich, vielleicht ein wenig zu laut, den Becher fest in der Hand. Der Alte sinnierte kurz, dann neigte er wie zuvor sein faltiges Haupt zu mir.

„Wenn du Unglücklicher die Windnüschl sehen solltest, so sei freundlich zu ihr. Sie ist hässlich wie die schlimmste stürmische Nacht, doch wenn du ihr zeigst, was du denkst, dann wird sie den grausigsten Sturm entfesseln, den du dir nicht einmal vorzustellen vermagst und wünschtest, du würdest nie einen Fuß in ihre Nähe gesetzt haben. Wenn du ihr jedoch herzlich und unvoreingenommen entgegentrittst, dann mag auch sie Milde walten lassen.“ Dann setzte sich ein Schatten über seine Augen und es war das letzte, was ich aus ihm heraus bekam. Trotzdem wandte ich mich höflich zum Abschied an ihn.

„Vielen Dank für die Hinweise, das wird mir sicherlich helfen. Und es tut mir wegen ihres Verlustes sehr leid. Ich werde dann mal besser schlafen gehen, schließlich will morgen das Rauhhorn und das Kugelhorn von mir bestiegen werden.“

Er zeigte keinerlei Regung, und so sinnierte ich noch einige Minuten schweigend über dem Becher, bis ich diesen geleert hatte, aus dem Gastraum schlingerte und die steile Holztreppe nach oben in mein Zimmer erklomm. Ich konnte mich eben noch aus meiner Kleidung schälen, fiel auf das breite, weiche Bett und schlief einen traumlosen Schlaf .

Am nächsten Morgen um zehn traf mein Wanderfreund Niklas mit der Bahn in Bad Hindelang ein, und ich holte ihn, noch leicht verkatert, ab. Mit dem Taxi fuhren wir zurück zu unserer Basisstation in Hinterstein, luden alles überflüssige in der Pension ab, schulterten Rucksack und Wanderstäbe und begannen den Aufstieg. „Hast Du auch nochmal den Wetterbericht gehört?“, fragte ich Niklas, als wir auf der Asphaltstraße das Dorf verließen. Auch wenn unser Weg einige Stunden in Anspruch nehmen würde, gab es auf der gut fünfzehn Kilometer langen Strecke unterwegs kaum ausreichend Gelegenheiten, vor schwerem Wetter zu flüchten.

„Na sicher, das wird ein absolutes Kaiserwetter heute, keine Frage. Ich habe stündlich Radio gehört und im Internet auf zwei Seiten geschaut. Außerdem hab ich so etwas im Urin.“

Ich glaubte ihm und es beruhigte mich, und ich freute mich umso mehr auf den Marsch.

Wir hatten uns entschieden, dass wir ein Stück des Weges auf dem Jubiläumsweg für Prinzregent Luitpold von Bayern wandern wollten. Das erschien uns ein guter Tagesmarsch, der seine entspannten Abschnitte hatte, uns aber auch Abenteuer und Nervenkitzel mit Klettersteigen und schmalen Graten versprach, wie ihn auch die Allgäuer Alpen zu bieten hatten. Schon bald nachdem wir die Ortsgrenze hinter uns gelassen hatten passierten wir den Wildfräuleinstein. Ich musste unvermittelt an die Mär denken, die mir der Alte gestern Abend eingeflüstert hatte. Zu gerne hätte ich vor dem Eingang der Grotte am Flüsschen innegehalten und mir die Inschrift auf der Tafel durchgelesen, doch Niklas war voller Tatendrang und zog mich ungeduldig weiter.

„Ach komm, das ist doch nur ein Ammenmärchen“, sagte er mitleidig.

„Das hat mich aber interessiert, ich hab da gestern was interessantes drüber gehört.“

„Teil dir deinen Atem besser gut ein. Wir werden von oben wundervolle Aussichten haben, und da wollen wir doch heil ankommen, oder nicht? Rasten können wir dann lieber dort.“

Ein wenig eingeschnappt wanderte ich hinter ihm im strahlenden Sonnenschein weiter den Berg hinan, und nach einer knappen Stunde erreichten wir die Willersalpe. Vor der Tür wurde gerade ein Pferdegespann entladen, und wir kehrten kurz ein, obwohl wir uns noch gut zu Fuß fühlten. Aber wir hatten von der vorzüglichen Brotzeit mit hausgemachtem Käse gehört, und das konnten wir uns nicht entgehen lassen, zumal wir als Flachländler einen solchen Weg auch nicht allzu oft auf uns nahmen. Wir luden uns noch einen kleinen Schinken, eine Lammsalami und ein gutes Stück Käse als Wegzehrung auf. Meine Stimmung hatte sich durch die Stärkung merklich gebessert, und so setzten wir unsere Wanderung fort.

Der Weg stieg zunächst sanft, dann aber doch merklich steiler an, als wir den ersten Gipfel, das Rauhhorn, ansteuerten. Linker Hand war Österreich zum Greifen nah, und der Blick auf den Vilsalpsee im Tal entschädigte für die Geröllsplitter, die sich in den Sohlen unseres Schuhwerks verirrten. Stetig erklommen wir den Pfad zum Berggipfel, und obwohl meine Trittsicherheit ausbaufähig war, stand unsere Eroberung des Rauhhorns bald in unseren persönlichen Geschichtsbüchern. Die Luft in der Höhe war uns schon länger zur Gewohnheit geworden, und nach unserem ersten Gipfel in über 2000 Metern Höhe hatten wir eine gewisse Sicherheit entwickelt, die den kleinen Höhenunterschied zum Kugelhorn wie einen Sonntagsspaziergang erschienen ließ. Auch wenn der letzte Abschnitt zu seinem Gipfel schwieriger zu meistern war und wir uns an den im Fels verankerten Drahtseilen festhalten mussten, so kamen wir doch beide unbeschadet oben an.

„Ha!“, rief ich triumphierend. „Von nun an kann es nur noch wieder nach unten gehen!“

Mein Begleiter hatte sich vornüber gebeugt um Luft zu holen, horchte aber auf.

„Wir haben noch ein paar Kilometer Weg vor uns. Freu dich also nicht zu früh. Für uns“, fügte er hinzu.

Auf den Erfolg genehmigten wir uns dann wie stets einen Schluck Rum aus dem Flachmann, den ich immer zur Hand hatte, wenn wir uns auf Wanderschaft begaben. Wir schüttelten uns genussvoll, und ich verstaute die silberne Flasche wieder in meiner Jackentasche. Dann holte ich die Wanderkarte aus meinem Rucksack und zeigte den Weg zurück vorbei am Schrecksee und über das Konstanzer Jägerhaus zum Parkplatz in Hinterstein, wo wir aufgebrochen waren. Wir rasteten eine halbe Stunde und taten uns an der köstlichen Wurst und dem Käse der Willersalpe mehr als gütlich. Staunend kauend bewunderten wir den Rundblick von der nördlich gelegenen Hinteren Schafwanne zum Knappenkopf und Älplekopf im Süden.

Ich erzählte nun von meinem Gespräch mit dem alten Mann in der Kneipe, von seinem geliebten Wilden Fräulein, und von der hässlichen Windnüschl, die seiner Erzählung nach das Wetter beeinflussen könne.

„Wenn ich schon den Namen „Windnüschl“ höre, dann bekomme ich einen Anfall und stürze mich hinab nach Österreich“, ereiferte sich Niklas, dem jeglicher Bezug zum Übersinnlichen abging. „Wer denkt sich denn solche Namen aus.“

„Die gleichen Leute vermutlich, die auch den Bergen ihre merkwürdigen Namen verpassen“, entgegnete ich betont gelassen. Doch mein Gefährte hörte mir wohl nicht einmal zu.

„Was hat der dir da bloß eingeredet. Das ist doch kompletter Unsinn! Wie soll denn eine schrumpelige alte Hexe irgendwie für Sturm und Regen hier heroben verantwortlich sein?“

Es machte mich auch ein bisschen verrückt, wenn er versuchte, ein paar bayerische Brocken einzustreuen, wenn wir uns unterhielten, und es einfach unecht und gewollt aber keine Spur authentisch klang.

„Was weiß ich denn. Du warst ja nicht dabei, aber der Alte, der mir davon erzählt hat, machte selbst einen derart außerweltlichen Eindruck, dass ich ihm einen guten Draht zu übersinnlichen Gestalten gleich abgenommen hatte.“

Er stand auf und seufzte.

„Und der Jagertee hatte wohl nichts damit zu tun, oder?“

„Nicht das geringste, würde ich sagen.“

„Ich sage dir, dass er dir da einen ziemlich großen Bären auf den Rücken geschnallt hat. Es spricht überhaupt gar nichts dafür, dass das Wetter umschlagen wird und wir hier oben in die Bredouille geraten sollten.“ Er begann, die Käserinde und die Haut der Salami einzusammeln. „Ich hab genug gegessen. Wollen wir weiter?“

Wir hatten unsere Rast noch nicht lange beendet, und waren vielleicht dreißig Minuten forschen Schritts bergab in Richtung Schrecksee marschiert. Meine Nackenhaare richteten sich auf, und ich blickte sorgenvoll gen Himmel. Sekunden später setzte ein Platzregen ein, wie er mir noch nie zuvor auf den Kopf geprasselt war.

„Verfluchter Mist!“, rief Niklas und wir sahen uns so fragend wie vielsagend an. „Das hat uns gerade noch gefehlt. So schnell kann das doch gar nicht wechseln, selbst auf dieser Höhe nicht.“

„Ich glaube, unten am See soll eine Hütte sein. Komm schnell, bevor das Gewitter losgeht und der Blitz uns erschlägt. Und Scheiß auf Schrittspannung und Wahrscheinlichkeitsrechnung wann was wo einschlägt. Ich will nur aus dem Regen raus!“ Wir liefen los, den Weg hinunter, an dessen Ende wir bereits die Berggipfel im Spiegel des Schrecksees sahen. Hinter uns hörten wir schon den Donner in den Tälern rollen, als unvermittelt eine kleine, tief gebeugte alte Frau mit schlohweißem Haar vor uns stand. Ihr verschrumpeltes Gesicht war von Warzen übersät und ihr buckliger kleiner Körper in wohl tausendfach geflickte Lumpen gehüllt. Wir brachen unseren hastigen Lauf sofort ab und kamen taumelnd direkt vor ihr zum Stehen.

„Wo kommen sie denn auf einmal her“, fragte ich schwer atmend, doch die Alte rührte sich nicht einen Deut und blieb stumm. Panik stieg in mir hoch. „Kommen sie schnell mit. Da vorne ist eine Hütte, die müssen wir erreichen, sonst holen sie sich noch den Tod.“

Doch sie zeigte immer noch keinerlei Reaktion. Unmittelbar hinter uns krachte es ohrenbetäubend und als wir uns verschreckt umsahen, war ein Blitz in einen freistehenden Fels ein kurzes Stück den Pfad hinauf eingeschlagen. Niklas und ich drehten uns wieder zu der alten Frau um, doch der Weg vor uns war menschenleer. Inmitten des Donnergrollens überall in der Luft glaubte ich ein meckerndes Lachen zu hören.

„Was zum Teufel ist denn hier jetzt los?“ rief Niklas, aber ich verspürte kein Verlangen, das mit ihm hier und jetzt zu diskutieren und auch noch womöglich eingebildeten Wetterhexen hinterherzurennen. So packte ich ihn am Arm und zog ihn weiter den Schotterpfad hinab.

„Ich nenn lieber keine Namen“, keuchte ich, während der Regen noch stärker niederging und wir zu einer Masse von Sturzbächen und überschwappenden Pfützen auf unseren Rucksäcken und unter unseren Füßen wurden. Schließlich aber hatten wir es geschafft und schleppten uns durchnässt bis auf die Knochen zur Schwelle der Hütte, die etwa einhundert Meter vom Ufer des Sees auf einer kleinen Anhöhe errichtet worden war. Sie war nicht versperrt, wie es bei einer Schutzhütte auch nur Sinn machen konnte, aber es war auch niemand dort. Denn alle vernünftigen Wanderer hatten wohl den Wetterbericht aufmerksamer studiert als wir es getan hatten und waren im Tal geblieben. Vielleicht hatten sie aber auch nicht gewagt, es derart vorwitzig mit der Windnüschl aufzunehmen.



© 2010 Hauke Preuß


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