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Dreißig Minuten auf Elbe 1.

Das einzige Verkehrsmittel, das hier in punkto Pünktlichkeit verlässlich ist, scheinen die Hafenfähren zu sein, dachte er, als er als erster Passagier vom Anlieger Finkenwerder auf die nach Fahrplan verkehrende Hafenfähre 62 mit dem bunten König-der-Löwen-Outfit trat. Was merkwürdig erschien, denn schließlich waren gerade die maritimen Fortbewegungsmittel besonders von den Witterungsbedingungen abhängig. Wahrscheinlich waren aber genau deswegen die Kapitäne der Binnenschifffahrt damit so vertraut, dass sie den Wellengang mit der Ankunftszeit termingenau verrechnen konnten.

Er stand im warmen Innendeck und überlegte, ob er den Mantel etwas enger knöpfen und auf das Oberdeck gehen sollte, oder die dreißigminütige Überfahrt zu den Landungsbrücken lieber drinnen bei einem Kaffee genießen wollte. Da aber die Sonne ab und zu durch die Wolken blinzelte, entschied er sich für die frische Novemberluft und stieg die Metalltreppe hinauf zum grün lackierten Oberdeck.

Ab und zu blickte er sich verstohlen um, nicht sicher, ob sie wirklich mit auf das Schiff gestiegen war. Natürlich, am Finkenwerder Fährhafen gab es wenig andere Gründe sich aufzuhalten, als die Fähre gen Hamburger Innenstadt zu besteigen. Vielleicht könnte man seinen Partner morgens zur Arbeit begleiten – aber es war schon später Nachmittag. Man könnte auch beim Verkehrsverbund angestellt sein und für die Pflege der Anlegestelle zuständig sein – aber dazu war ihre Kleidung zu extravagant, und Putzgeräte hatte er in ihrer Umgebung auch nicht entdecken können.

Er überlegte, wo er sie schon einmal gesehen haben konnte. Es musste irgendwo auf dem Airbus-Gelände gewesen sein, da war er sich plötzlich sicher. Diese goldgelockten Haare, diese stämmige Figur... sie musste ihm schon einmal in der Werkskantine über den Weg gelaufen sein. Ob sie dort eine der Servicekräfte oder eine mittagessende Kollegin war, daran konnte er sich allerdings nicht mehr erinnern.

Der Fahrtwind blies ihm die wenigen Haarsträhnen aus dem Gesicht, als er zur Reling ging. Sein Blick schweifte auf den Elbstrand von Övelgönne. Dort, wo im Sommer die Reichen und nicht ganz so Schönen das Szeneleben der Stadt aufzuwerten suchten, war in der diesigen Novemberluft nicht mehr als ein heller Streifen am Elbstrand auszumachen. Im nunmehr fast vergangenen Jahr hatte er sich zwei oder drei Mal dort niedergelassen, vornehmlich an seinen freien Arbeitstagen unter der Woche, als der Andrang nicht allzu stark war und er sich einen Platz suchen konnte, an dem er sowohl auf die Elbe blicken, als auch in sicherem Abstand die Schülerinnen in ihren Badeanzügen beobachten konnte.

Noch einmal dachte er an die blonde Frau, die er am Anleger gesehen hatte. Konnte es sein, dass er sie auch drüben am Strand schon einmal gesehen hatte? Zwar nicht unter den Schülerinnen, aber er konnte sich durchaus ausmalen, wie sie in einem Badeanzug oder Bikini aussehen würde.

Der Herbstwind kühlte sein Gesicht, während er an den Villen diesseits der Elbchaussee vorbeischipperte. Eigentlich wäre es schöner, an der Süderelbe zu wohnen, dachte er, anstatt jeden Morgen und Abend die Fähre zu bemühen. Auf der anderen Seite wartete seine Wohnung im Portugiesenviertel auf ihn, in der er seit fast zehn Jahren lebte, und die wollte er nicht leichtfertig aufgeben. Schließlich wusste er auch nicht, wie lange er noch bei Airbus angestellt war; Empfangspersonal war wohl überall zu niedrigen Löhnen erhältlich.

Jemand berührte seine Schulter. Er blickte sich um, und sah verdutzt in das Gesicht einer dicklichen, schwarzhaarigen Frau.

„Entschuldigung“, sagte die Frau, „könnten sie mal Sicht freimachen? Kinder wollen mal Elbe sehen.“
„Klar, bitteschön“, sagte er und schritt zur Seite, obwohl nun wirklich genügend Platz zur Aussicht vorhanden war.

Er trat einen Schritt weiter auf den Tanzsaal des Oberdecks. Der Jahreszeit entsprechend war der Betrieb hier an der frischen Luft nicht sehr groß, und er setzte sich auf einen der festgeschraubten Stühle an einem der sechseckigen Tische. Das Schiff passierte den ehemaligen England-Fähr-Terminal – ein weiteres hübsch anzusehendes Beispiel hanseatischer Misswirtschaft, genau wie die geplante zweite Köhlbrandbrücke am anderen Ufer es wahrscheinlich werden würde. Während er über weitere Fehlinvestitionen sinnierte, hörte er plötzlich den metallenen Klang von Stiefeln die auf der Leiter zum Oberdeck hinaufstiegen. Von der Frau mit den elbfixierten Kindern, und einem jungen, leicht pickligen Mann in einer der leuchtend gelben Daunenjacken eines norwegischen Herstellers abgesehen, hatte er den Ausblick in den trüben Horizont und den kalten Fahrtwind für sich alleine. Mehr aus Langeweile denn aus Neugier beobachtete er den Treppenausgang. Auch wenn er es nie wirklich satt wurde, hatte er den Wasserweg nach St. Pauli doch schon so oft befahren, dass er es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, auf der Überfahrt unauffällig die anderen Passagiere zu beobachten. Da für seine Arbeit am Empfang Diskretion ohnehin vonnöten war, konnte er diesen Brauch ungestört ausüben.

Eine warme Woge flutete seinen Magen, als er ihren engelsähnlichen Lockenkopf aus der Öffnung emporsteigen sah. Entgegen seiner Gepflogenheit fixierte er ihre Augen direkt und ohne Umschweife. Auf eine gänzlich unbekannte Art war er sich auf einmal gewiss, dass sie an Deck gekommen war, weil sie ihn auch schon am Anleger erspäht hatte und darauf brannte, ihn anzusprechen und zu erfahren, wo sie sich schon zuvor gesehen hatten. In diesem Moment war er sich auch sicher, dass er sie zu einigen Gelegen-heiten in der jüngsten Vergangenheit im Bereich Vertrieb gesehen hatte – sie war sogar einige Male an seinem Auskunftsschalter erschienen, um während der Mittagspause abgegebene Sendungen abzuholen. In den meisten Fällen war er leider zu sehr von ankommenden Besuchern abgelenkt gewesen, um mehr als ein oder zwei Sätze mit ihr zu reden – doch nicht einmal ihren Namen hatte er je von ihr gehört, obwohl er eigentlich jeden, der bei ihm ein und aus ging, persönlich und per Handschlag begrüßen konnte.

Die Fähre passierte die an einem Wochentagsnachmittag seltsam verlassen und unwirklich wirkende Fischauktionshalle und schwenkte kurz danach aus der Fahrrinne in Richtung Landungsbrücken ein, um das Andockmanöver einzuleiten. Sie ging an ihm vorbei auf den Jungen in der leuchtendgelben Jacke zu.

„Warum versteckst Du Dich denn hier oben?“ herrschte sie ihn an.
Er zuckte mit den Schultern.
„Kann man ja wohl kaum als verstecken hier oben bezeichnen. Hast mich ja gleich gefunden. War wohl nicht besonders schwer“, entgegnete er patzig.
Sie fasste ihn am Arm.
„Na, komm mit runter ins warme. Ich möchte nicht, dass du gleich völlig durchgefroren zu deinem Vater kommst.“
„Die Jacke ist warm genug...“
„Komm bitte mit.“
Sie zog noch einmal an seinem Puffärmel, und er folgte unwillig.

Als die beiden an ihm vorbeigingen, passierte das Schiff gerade das Hotel Hafen Hamburg und machte sich zum Anlegen bereit. Die Maschinen erhöhten beim Einschwenken den Geräuschpegel, und so wurde sein halbherziger Versuch, sie im Vorübergehen anzusprechen, im Keim erstickt. Allerdings hätte er in dieser Situation auch nicht gewusst, was er zu ihr hätte sagen sollen.

Er blieb noch einige Minuten auf dem Oberdeck sitzen, blickte auf den Ausstieg auf den überbrückten Anleger Landungsbrücken, bis sie mit ihrem Sohn über den Steg gestiegen und aus seinem Blickfeld verschwunden war. Danach ging auch er die Treppe hinunter, und trat als letzter Passagier für diese Fahrt über den Metallsteg an Land.



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