h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Enten vom selben Teich.

Er saß wieder auf der altbekannten Bank im Park nahe der Polizeidirektion Ost. Eigentlich saß er jeden Sonntag hier, schon so lange er sich erinnern konnte. Er hatte schon so oft in seinen dicken Mantel vergraben hier gewartet, bis sich das letzte Blatt von der mächtigen Kastanie gelöst hatte und sanft auf die Oberfläche des kleinen Teiches hinabgesegelt war. Sein kleiner Schnauzer lag vor ihm auf dem herbstfeuchten Boden und hob für einen Moment seinen bärtigen Fang, schnupperte dem Blatt hinterher, und legte dann seine Schnauze schnaufend wieder zwischen seine Pfoten.

Die letzten fünf Stockenten paddelten noch zwischen dem Laub auf dem Wasser herum, aber es schien ihm, als ob es sie in absehbarer Zeit in den Süden ziehen würde. Er konnte allerdings nicht mit Überzeugung behaupten, dass er sich besonders gut in die Sehnsüchte von Wasservögeln hineinversetzen konnte. Aber ihm fiel auf, dass sie immer mehr gründelten und immer weniger kauend oder mit dem Schnabel klappernd wieder auftauchten. Folglich musste das Futterangebot immer magerer werden, und der Traum von einem besseren Winter in südlicheren Breitengraden wurde stärker, sofern Enten denn träumen. Und dieser Teich hier wurde im Winter immer von den Enten gemieden, zumindest so lange, wie er sich erinnern konnte.

Es raschelte im Laub auf dem Weg, und er blickte zur Seite. Für gewöhnlich kannte er die Spaziergänger in diesem, seinem, Revier sehr genau, auch wenn er nur sehr selten mit ihnen ins Gespräch kam und auch noch seltener kommen wollte. Dieser Claim erstreckte sich rund um den kleinen Teich auf der Farmsener Seite der Stadtteilgrenze. Nur einen Steinwurf in Richtung Süden gab es noch einen weiteren, größeren Teich, doch der lag schon auf Tonndorfer Gebiet, und dorthin ging er nicht. Nun näherte sich eine junge Mutter mit einem offensichtlich aus zweiter Hand stammenden Kinderwagen, und sie hatte er mit Sicherheit noch nie hier gesehen.

Während sie den Wagen langsam an ihm vorbei schob, sah er sie sich genau an. Ihr wohl eigentlich knielanger grauer Mantel war so abgewetzt, dass er an den Ellenbogen schon die Fäden erkennen konnte, einige Nummern zu groß und verwandelte alles, was darunter verborgen war, zu einem großen, farblosen Klumpen. Er konnte gerade eben noch eine bunte Strumpfhose aus ihren abgestoßenen braunen Lederstiefeln wachsen sehen. Obwohl es für Mitte November noch nicht sehr kalt war, hatte sie ihr Gesicht bis zur spitzen Nase in einem gelben Schal vergraben, der farblich gar nicht zu ihrem übrigen Äußeren passen wollte. Unter einer braunen grob gestrickten Pudelmütze wucherten einige blonde Strähnen hervor, die sich über ihren blauen Augen verstrickten. Die Räder quietschten, und er konnte ein leises Wimmern aus dem Inneren der Karre vernehmen. Sein Schnauzer hob den Kopf, und gab einen unterdrückten Laut von sich. Nur wenige Meter von seiner Bank entfernt blieb sie stehen, und beugte sich über das Kind in dem Wagen. Sie reichte mit der Hand hinein und sprach ein paar wohl beruhigende Worte, die er aber aufgrund der geringen Lautstärke und der Entfernung nicht verstehen konnte. Vielleicht sprach sie aber auch eine ihm unbekannte Sprache.

Er war unsicher, ob er aufstehen und ihr seine Unterstützung anbieten sollte, doch er wollte sich nicht aufdrängen. Vermutlich benötigte sie auch keine Hilfe, aber der Zustand ihrer Kleidung und des Kinderwagens dauerte ihn, auch wenn er ihr in finanzieller Hinsicht nur schwerlich unter die Arme greifen konnte. Es gab auch keinen triftigen Grund für eine solche Tat, schließlich kannte er sie überhaupt nicht, und selbstloser Freundlichkeit wurde in diesen Zeiten fast immer mit Argwohn und Misstrauen begegnet.

Dennoch stand er auf und ging zu der jungen Frau hinüber. Ob er ihr behilflich sein könne, fragte er, und wies auf das weinende Kind, vermied aber einen zu genauen Blick auf ihr ramponiertes Äußeres. Die Frau sah ihn verwirrt und verblüfft an. Es schien ihr vollkommen unmöglich, dass sich jemand fremdes einfach so um sie und ihr Kind sorgte. Er versicherte ihr erneut, dass er nur helfen wolle, und sie sich keine Sorgen machen solle, er wolle sie keinesfalls bedrohen oder ihr anderweitig Böses antun. Sie beugte sich schützend über den Kinderwagen und schob ihn hastig von ihm fort. Er hielt einen Augenblick inne, sah ihr nach, dann folgte er ihr jedoch. Daraufhin versuchte sie das Tempo zu erhöhen, aber der alte Wagen auf dem unebenen Boden und dem nassen Laub ließ das nicht zu, und so schloss er schnell wieder zu ihr auf. Er streckte den Arm nach ihr aus, als sie wieder in Reichweite war. Sie erschrak bei der Berührung und schlug angstvoll seine Hand weg. Erneut beteuerte er, dass er nur um ihr Wohl besorgt sei und ihr lediglich seine Hilfe anböte. Sie kauerte sich wie eine gejagte und in die Enge getriebene Ricke über ihr Kind und murmelte in einer ihm fremden Sprache vor sich hin. Dann hob sie ihren Kopf, sah ihn aus großen Augen an und stammelte in gebrochenem Deutsch, dass er sie lassen solle, sie wolle nicht, wüsste nicht, verstünde nicht, er möge doch bitte von ihr gehen und sie in Frieden lassen.

Ihm blieb letztlich nichts anderes übrig, als einen Schritt zurück zu treten, sich zu verbeugen und eine Entschuldigung zu formulieren, so gut er es ihr verständlich machen konnte. Dann wandte er sich um und ging langsam zurück zu seiner Bank. Seine Füße traten ein wenig wütend das Laub mit jedem Schritt in die Luft. Eigentlich erwartete er, dass das Quietschen der Kinderwagenräder sofort wieder einsetzen würde, weil sie sich beeilen wollte, von hier fort zu kommen. Statt dessen aber hörte er es im Laub hinter ihm rascheln, und ehe er sich umdrehen konnte, spürte er, wie sich ein spitzes Stück Metall durch seinen Mantel und in seine Flanke bohrte. Seine Knie knickten ein, das Messer wurde hinaus gezogen, und als sie erneut zustach, krümmte er sich zusammen und fiel röchelnd vornüber in das matschige Laub. Der Schnauzer, der bisher unbeteiligt in den Blättern nach möglichen läufigen Hündinnen geschnüffelt hatte, kläffte daraufhin aufgeregt herum, versuchte nach der Frau zu schnappen, konnte sich aber nicht von der um das Handgelenk seines Halters gewickelten Leine befreien.

Die Frau strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, dann ging sie vorsichtig rückwärts zu ihrem Wagen. Mit jedem Schritt beobachtete sie den Mann, ängstlich, ob er aufstehen würde. Das tat er auch nach Ewigkeiten dauernden Momenten nicht, und so schob sie die Karre mit zitternden Händen weiter den Weg entlang, bis sie unbehelligt den Berner Heerweg erreicht hatte und dort an der Haltestelle Ebeersreye in den Bus stieg. Den Wagen hob sie selber über die Schwelle im Hintereingang des Busses.

Der Mann wand sich auf dem Boden, sein Blut sickerte langsam durch seinen wollenen Mantel, verbreitete sich in den Fasern und hinterließ dort einen Flecken wie ein guter Bordeaux, der sich nicht wieder auswaschen ließ. Sein Hund beugte ich über ihn und leckte mit seiner rauen Zunge über sein Gesicht, in der Hoffnung, dass er sich rührte und um ihn kümmerte. Doch er lag an seinem Teich, in seinem Revier, und rührte sich kaum, bis auf ein schwaches Husten. Keiner der beiden nahm Notiz davon, dass die letzten paar Stockenten flatternd vom Wasser abhoben und sich durch die Herbstsonnenstrahlen auf ihren weiten Weg in die Wärme machten.



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