h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Elfter Februar.

Mein Name ist Ali Yusuf, ich bin 33 Jahre alt und lebe in Kairo. Ich liebe mein Land Ägypten, ich liebe die Menschen hier und deshalb möchte ich erzählen, was ich während der Revolution erlebt habe. So lange ich denken kann, wurden wir von Husni Mubarak regiert, der sich Staatspräsident nennt. Ich fahre Taxi in der Stadt, davon werde ich nicht reich, aber das ist mir nicht so wichtig. Meine Frau Sarah verdient auch ein bisschen Geld als Friseurin in einem Salon in der Kasr Al Nile, nicht weit vom El-Tahrir-Platz, und wir benötigen nicht viel zu unserem Glück. So können wir unsere kleine Tochter Leah, sie ist vier, auf einen guten christlichen Kindergarten schicken. Seitdem die Salafiten, Muslimbrüder und andere wiederholt unsere Kirchen angezündet haben ist das schon ein bisschen riskanter geworden, wir Kopten sind nur eine kleine Minderheit. Dennoch achte ich schon darauf, dass sie in der christlichen Lehre aufwächst und bete zu Gott, dass ihr nichts geschieht. Ich wünschte, wir könnten alle friedlich nebeneinander unseren Glauben eben. Zwar bin ich muslimisch erzogen worden, aber meine Frau Sarah ist Christin, und aus Liebe zu ihr bin ich konvertiert. Als die Salafiten im Januar die Kirche in Alexandria, wo die Familie meiner Frau lebt, in Brand steckten, war ich gerade auf einer Fahrt in Kairo unterwegs und fuhr einen hochdekorierten General zu einem Treffen in das Innenministerium. Ich fragte ihn, weshalb die Christen nicht besser geschützt werden könnten, aber er tat, als habe er mich nicht gehört.

Ich bin aufgewachsen in den kleinen Ort Sinnuris, etwa 100 Kilometer südlich von Kairo gelegen, und kam in die Stadt, weil ich nach der Schule studieren wollte. Ich hatte mich dort durchaus wohl gefühlt, meine Eltern waren einfache Baumwollpflücker und es ging uns dort nicht unbedingt schlecht, denn man hatte alles, was man zum Leben brauchte, und die Gemeinschaft im Ort war vorbildlich. Eigentlich wollte ich Arzt werden, doch merkte ich leider bald, dass ich äußerst gerne Menschen helfe, aber das viele Blut, das ich während der chirurgischen Seminare sehen musste, drehte mir meinen Magen um, und so verwarf ich das Vorhaben wieder, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Anschließend versuchte ich mich eine Zeit lang in alter ägyptischer Geschichte, aber auch das machte mich nicht dauerhaft glücklich, und nachdem ich meine Frau kennengelernt hatte und schließlich unser Kind unterwegs war, konzentrierte ich mich nur noch auf meine Arbeit als Taxifahrer, mit der ich mir auch schon das Studium finanziert hatte.

Zuerst dachte ich, dass mich die Zustände nicht direkt genug betrafen, wegen denen seit dem 25. Januar in Kairo demonstriert wurde. Klar, wirklich zufrieden ist hier eigentlich niemand gewesen, der keine besonderen Beziehungen zu wichtigen Menschen im Militär oder Regierungskreisen hatte, aber im Großen und Ganzen ging es uns nicht schlecht, und wir Ägypter sind recht genügsam. Außerdem fand ich es nicht gerechtfertigt, dass die Menschen Polizeistationen und Partei- und Regierungsgebäude in Brand setzten und Gewalt gegen die Polizisten anwandten, die dann sicher nur in Notwehr das Feuer auf die gewalttätigen Demonstranten eröffnet hatten. Das war der Auslöser für die Massendemonstrationen gewesen. Doch wenig später hatte ich einen Fahrgast, einen Universitätsprofessor wie er mir sagte, und fuhr die Magri Al Auoen entlang, auf dem Weg zu einem Hotel in der Nähe des El-Tahrir-Platzes im Herzen der Stadt Kairo, von der keiner weiß, wie groß sie wirklich ist. Ich konzentrierte mich auf den Verkehr, während der Mann erzählte, dass mehrere seiner Studenten in der letzten Zeit von Polizisten festgehalten, befragt und wohl auch verprügelt und misshandelt worden seien. Als ich an einer Kreuzung hielt, sah er aus dem Fenster und rief plötzlich »Biegen sie hier rechts ab und halten sie in hundert Metern!« und ich folgte seinem Wunsch. Als ich zum Stehen kam stieg er aus und lief ein kurzes Stück in einen Häusereingang, in dem drei Polizisten auf eine junge Frau mit blonden Haaren einschlugen. Sie blutete im Gesicht und an den Armen, und die Männer waren gerade dabei, ihr die Bluse vom Leib zu reißen, und ich sah, wie einer von ihnen an ihre Brüste griff. Da stieg auch ich aus und lief dem Professor hinterher, der inzwischen versuchte, die junge Frau vor den Zugriffen der Männer zu schützen. Da er vornehm gekleidet war und eine natürliche Autorität ausstrahlte ließen sie tatsächlich von ihr ab und begannen eine wütende Diskussion mit ihm. Unterdessen konnte ich die Frau bei der Hand nehmen und führte sie zu meinem Taxi. Ich half ihr, sich wieder anzuziehen und bot ihr ein Taschentuch zum Säubern ihres Gesichtes an. Plötzlich erkannte ich sie wieder. Früher hatte sie braune Haare, aber nun hatte sie diese blond gefärbt.

Sie war etwa in meinem Alter, und kam aus dem gleichen Ort wie ich. Ich hatte sie früher immer bewundert, vielleicht auch ein wenig für sie geschwärmt, denn sie war jemand, der sich nichts sagen ließ und auch früh schon gegen alles, was ihr am gemütlichen behaglichen aber eben auch patriarchalischen Leben in Ägypten nicht gefiel, aufzubegehren versuchte. Auch brach sie die Schule ab und machte sich auf in den Moloch Kairo, als sie sechszehn oder siebzehn war, ein Schritt, den ich ohne klare Perspektive niemals gewagt hätte.
»Ich kenne dich aus Sinnuris«, sagte ich zu ihr, nachdem sie einigermaßen wieder hergestellt war und wir auf die Nile Corniche eingebogen waren. Sie hatte bis dahin nichts gesagt und ich sah nur im Rückspiegel, wie sie mich ungläubig anblickte.
»Du bist Xhemile, die Tochter von Selim und Anina«, fuhr ich fort. »Und das ist auch nicht deine richtige Haarfarbe. Du bist vor vielen Jahren nach Kairo gegangen, und ich habe mich ab und zu gefragt, was aus dir geworden ist.«
Sie fuhr sich durch die Haare und wischte sich noch einmal über das Gesicht.
»Ich habe die Schule hier zu Ende gemacht und danach Wirtschaft und Politik hier an der Universität studiert«, sagte sie mit leiser, dennoch erstaunlich fester Stimme. »Danke, dass du mich da rausgeholt hast.«
»Das ist doch wohl selbstverständlich“, sagte ich, bevor mir einfiel, dass mein ursprünglicher Fahrgast wohl noch mit den drei Polizisten zu tun hatte. Ich hätte eigentlich umkehren sollen und auch ihn dort herausbringen, aber ich wollte sie nicht wieder in Gefahr bringen, und so fuhr ich weiter.
»Nein, das ist es leider nicht«, entgegnete sie. »Die meisten haben Angst vor der Polizei, und das auch ganz zu Recht.«
»Darüber habe ich gar nicht nachgedacht«, gab ich zu. »Wohin soll ich dich denn bringen?« »Wenn du mich zum Tahrir bringen kannst, wäre das großartig. Mir ist zwar eher nach einem Bad, aber es ist mir wichtiger, zu demonstrieren, weil sich hier etwas ändern muss. Gerade nach dem, was mit mir eben geschehen ist.« Sie schwieg einen Moment. »Komm doch mit. Du hast bewiesen, dass du Mut hast, und wir brauchen jeden hier um zu zeigen, dass wir uns von Husni und seinen Schergen nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen wollen und diese Willkür nicht mehr tolerieren.«
Ich sagte nichts, weil sich vor mir, wie es ständig passierte, ein Auto in die Spur gedrängelt hatte und ich aufpassen musste, ihm nicht aufzufahren. Dann dachte ich darüber nach, wie viel Pfund an Einnahmen mir entgehen könnten, wenn ich mein Taxi jetzt stehen ließe und mich der Demonstration anschließen würde. Ein Blick in den Rückspiegel machte aber meine Entscheidung unumstößlich. Ich holte mein Mobiltelefon aus der Jackentasche und rief meine Frau an.
»Ich bin in Kürze auf dem El-Tahrir-Platz, dort wird demonstriert, und ich werde das auch tun. Ich möchte aber nicht, dass du auch kommst, die Situation scheint derzeit sehr gefährlich, pass du bitte lieber auf Leah auf.«
»Ja«, sagte sie, »das mache ich, aber gib‘ auch auf dich Acht.«
»Das mache ich immer, sonst wäre ich doch kein Taxifahrer«, sagte ich, und merkte, wie sie am anderen Ende lächelte. »Bis später.«
Ich fuhr also die Nile Corniche entlang des Nils in Richtung Norden und mir dämmerte, dass nur ein aktiver Einsatz auf diesen Demonstrationen vielleicht eine Aussicht auf Erfolg hätte, wenn wir Mubarak zum Rücktritt bringen und eine Veränderung bewirken wollten.

Ich musste plötzlich scharf bremsen, denn wie aus dem Nichts stand Anpu vor mir und beinahe hätte ich ihn angefahren. Natürlich nicht ihn selbst, sondern einen hühnenaften Mann aus einer kleinen Gruppe Demonstranten, die eben aus einer Seitenstraße marschierten. Er hatte sich die Maske eines Schakals aufgesetzt und wie eine antike Abbildung des Gottes gekleidet und stand nun direkt vor mir. Ich blickte ungläubig seine groteske Fratze an und hielt es nicht für ein gutes Omen, wenn mir der Totengott oder auch nur eine seiner Personifizierungen vor das Auto lief. Auch er starrte mich aus tiefen, leblosen Augenhöhlen an, bis er sich langsam wieder in Bewegung setzte, und zu seiner Gruppe stieß, sein hoch aufragender Kopf schwankend wie bei einem waidwunden Tier.

Nachdem ich einen Parkplatz am Nilufer gefunden hatte, stiegen wir aus meinem Taxi. Ich schloss es ab und begleitete sie, immer noch schweigsam, ganz entgegen meines eigentlichen Naturells.
»Ja, ich erinnere mich an dich«, sagte sie schließlich. »Bist du nicht Ali? Und du fährst hier Taxi?«
»Das bin ich, und das tue ich und ich tue es gerne«, antwortete ich. »Früher wollte ich etwas Wichtiges werden, ein Doktor vielleicht, aber ich bin auch so froh, über das, was ich bin.«
»Du bist immer wichtig«, sagte sie, während sie ihren zierlichen Körper zur vollen Größe aufrichtete. »Jeder ist wichtig, der mit zur Demonstration kommt und sich traut, für seine Freiheit und die der anderen einzustehen.«
Wir erreichten den Al-Tahrir, den ›Platz der Befreiung‹, und ich war höchst erstaunt, wie voll es war und dass aus so vielen Bevölkerungsschichten Menschen dort waren. Es waren Abertausende, so schien es mir, aus allen Altersstufen und sozialen Schichten und auch Glaubensrichtungen. Ärzte, Professoren, Bauern und Gesinde aus dem Umland, Anwälte ebenso wie Maurer, Tischler und andere Handwerker, auch einige Schlachter in Ihren Kitteln liefen herum und skandierten »Husni muss fort«, »Wir wollen Freiheit« und anderes. Muslime, Juden und Christen standen einträchtig nebeneinander und halfen sich, wo sie konnten. Besonders die hohe Anzahl von jungen Menschen und besonders Frauen ohne Kopftuch fielen mir positiv auf. Viele von ihnen hatten sich schon seit mehreren Tagen hier aufgehalten und waren geübt darin, einen von Trommeln begleiteten Wechselgesang anzustimmen, dem aus tausenden Kehlen geantwortet wurde. Viele hatten Plakate gemalt, die den Rücktritt Mubaraks in Karikaturen und Spötteleien aufgriffen, auch wenn ihnen das Anliegen bitter ernst war. Sie hatten eine Bühne errichtet, auf der jeder, der wollte und sich traute, eine Rede halten konnte, und an mehreren Ecken hatten Künstler ihre Leinwände aufgestellt und sorgten für Nachschub an Plakaten oder spannten die Teilnehmer in spontanen Aktionen ein. Und überall wurde diskutiert und sich ausgetauscht, aber auch gebetet, ohne dass sich Angehörige anderer Konfessionen daran störten.

Noch hielt sich das Militär, das die meisten Ägypter weiterhin als Stabilisator ansahen, am Tahrir weitestgehend zurück, aber man spürte in der Menge, dass sie sich ihrer Macht noch bewusst waren und wir nicht sicher sein konnten, dass sie auch alles taten, um uns zu schützen, wenn denn die bewaffneten Schlägertruppen der Regierung auf die Demonstranten losgelassen werden sollten, oder ganz Einfach der Befehl zur Räumung des Platzes erteilt wurde. Darüber sprachen die Menschen ganz offen, auch wenn sich niemand immer ganz sicher sein konnte, ob nicht irgendwo ein Spitzel der Regierung zuhörte. Von Militär bezahlte Kollaborateure aus den Armenvierteln der Stadt waren leider keine Seltenheit, doch hier, in der großen Masse, fühlten wir uns alle stark.und als Einheit. Einige der ganz mutigen jungen Männer hatten sich vor die Ketten der Panzer gelegt, um ein Vordringen und eine durchaus denkbare Räumung des Platzes so lange wie möglich hinauszuzögern.

Zunächst stand ich etwas verloren auf dem mit unzähligen Menschen bevölkerten Platz. Ich sah mich um und versuchte, mir klar über das Ausmaß dieser Ansammlung zu werden, aber ich konnte zunächst nicht begreifen, weshalb so viele Menschen die Arbeit niederließen und hier ein Zeichen setzen wollten. Bis ich so langsam merkte, dass ich es ja selbst getan hatte, weil es für mich einen konkreten Anlass gegeben hatte. Da überkam mich ein Gefühl des Stolzes, mich für dieses Land einsetzen zu können und ich begann, mich nach mir bekannten Gesichtern umzusehen. Als Taxifahrer kam ich natürlich viel in der Stadt herum, und so sah ich viele, die ich aus Hotels, Bädern, Restaurants, Bars oder Geschäften kannte und so kam ich bald mit einigen ins Gespräch, die sich seit Beginn der Demonstrationen immer wieder auf dem Platz versammelt hatten.
»Mir war lange nicht bewusst, wie sehr das Militär und die Minister und vor allem Husni sich in die eigene Tasche gewirtschaftet haben«, sagte Muhammad, ein junger Pförtner aus dem Lotus Hotel ganz in der Nähe des Platzes. »Schritt für Schritt hat er alles, was Nasser in der Bildung, der Gesundheit, der Wirtschaft für das Volk getan hatte, nur noch in die Taschen seiner Günstlinge geleitet.«
»Seit Mubarak an der Macht ist lebt er nach seinen eigenen Gesetzen, die für uns, aber nicht für ihn gelten«, erzählte mir Said, ein Gemüsehändler um die 50. »Sieh dir doch an, wie wir leben! Die Polizei verhört und foltert Menschen ohne Grund und schürt Angst, niemand kümmert sich um die Straßen, den Abfall, und die Sicherheit ist doch auch nur eine scheinbare, weil wir gewohnt zu glauben, dass die Armee zu unserem Schutz da ist. Aber sie agiert völlig willkürlich und alle sind vor allem darauf bedacht, sich die Taschen zu füllen. Aber sieh doch einmal, was für Kurzem in Tunesien mit Ben Ali passiert ist! Und wir sind ein viel größeres Volk, und haben noch länger unter Mubarak und seinen Schergen gelitten.«
Suleyman, ein Bäcker aus meinem Viertel, brachte gerade Brot vorbei, das er am Tage nicht verkaufen konnte. Wir begrüßten uns mit einer Umarmung.
»Schön dich auch hier zu sehen«, sagte er müde lächelnd, aber in seinen schwarzen Augen funkelte es. »Ich hoffe, wir können dich dazu ermunterten, uns zu unterstützen. Es haben sich mehrere Gruppen organisiert, die sich um die Versorgung mit Lebensmitteln, Decken und Medikamenten kümmern, aber auch dafür sorgen, dass auf dem Platz Ordnung herrscht, kein Müll herumliegt und alles seinen Gang geht.«
Das war für Ägypten und insbesondere Kairo keine Selbstverständlichkeit. Alle strahlten eine Zuversicht aus, die mich beeindruckte, und ich unterhielt mich lange mit ihnen und gewann das Gefühl, dass ich dort hingehörte.
»Ich will mich gerne einbringen«, antwortete ich in die Runde. »Was ist denn am dringendsten notwendig?«
»Nun, du hast doch ein Taxi«, meinte Mustafa, ein Bankier, der in seinem guten Anzug direkt von der Arbeit gekommen war, zu mir. »Vielleicht kannst du es einrichten, dass du, wenn etwas benötigt wird, für uns fahren und es abholen kannst. Wir versuchen, dir möglichst ungehinderten Zugang zu verschaffen. Manchmal macht die Armee Schwierigkeiten, Leute mit Versorgungsmaterialien hineinzulassen.«
Ich sorgte mich kurz über die Benzinknappheit in der Stadt, aber solange noch etwas zu bekommen war, wollte, ja konnte ich meine bescheidene Hilfe nicht verweigern.
»Ja, natürlich«, nickte ich. »Ich werde gerne helfen, wo es mir möglich ist.«

Ich kehrte nach Hause zurück, müde, durchgefroren und viel später als eigentlich von mir geplant. Meine Frau und meine Tochter warteten schon mit dem Essen auf mich als ich eintrat.
»Wo warst du nur so lange?« fragte Sarah. »Ich habe versucht, dich noch einmal zu erreichen, aber die Leitung war tot. Ich habe mir schreckliche Sorgen um dich gemacht.«
»Ich war noch auf dem Tahrir, demonstrieren. Die Regierung hat das Mobilfunknetz lahmgelegt, wir konnten alle nicht telefonieren. Es tut mir leid, dass du dich gesorgt hast. Ich habe vorhin erlebt, wie drei Polizisten eine junge Frau, die ich aus Sinnuris kannte, verprügelten und fast vergewaltigt hätten. Da habe ich ihr geholfen und sie zum Platz gebracht. Da sind tausende von Menschen und ich musste dort einfach meine Meinung kundtun und mit ihnen reden, nach diesem Erlebnis. Es geht so nicht weiter. Wir können uns das von oben nicht länger gefallen lassen, und wenn wir so viele sind, können wir sicher etwas verändern. Dafür hast du doch bestimmt Verständnis, oder?«
Sie sah mich lange und traurig an, nickte aber schließlich.
»Pass nur auf, dass dir nichts passiert, leg dich nicht mit der Polizei an.«
»Ich bin vorsichtig, das weißt du doch.« Ich küsste sie und meine Tochter auf die Stirn. »Was gibt es denn schönes zu essen?«
»Koshari, besonders scharf für dich.«
»Fein, mein Lieblingsessen!«
»Nur leider ist es nun kalt.«
»Das macht mir nichts, ich werde es trotzdem genießen!«
Wir sprachen ein Tischgebet zusammen, in dem wir auch die vielen mutigen Demonstranten mit einschlossen, und ließen es uns schmecken.

Ich lag in dieser Nacht noch lange wach, während ich neben mir Sarahs gleichmäßige Atemgeräusche hörte, so wie ich es seit Jahren gewohnt war. Ich konnte nicht aufhören, an meine Begegnung mit Xhemile zu denken, an das, was sie in mir ausgelöst hatte und was ich an diesem Tag erfahren musste über den Zustand unseres Landes. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Veränderungen dies alles in mir hervorrufen würde oder auch schon in Gang gesetzt hatte. Als ich endlich eingeschlafen war, träumte ich einen Traum, der mich immer wieder in den Nächten begleitet hatte, ob ich wollte oder nicht, und über seine Deutung war ich mir noch nie klar geworden.

Ich war ein hochrangiger Handlanger von Pharao Cheops und half bei der Planung des Baus der großen Pyramide. Unzählige Sklaven schickte ich dabei in den Tod, ich ließ sie auspeitschen, wenn sie ihr Pensum nicht schafften, was vielen nicht gelang, denn es waren unmenschliche Dinge, die ich von ihnen verlangte, auch wenn ich mir einredete, dass ich letztlich auch nur ein Erfüllungsgehilfe des Pharao war. Ich hatte auch keine Skrupel, mir die schönsten Mädchen auf den Sklavenmärkten zu meinem eigenen Vergnügen zu besorgen und wenn sie mir nicht mehr gefielen, verkaufte ich sie weiter an die besten Bordelle der Stadt. Ich lebte im Überschwang mit den edelsten Delikatessen, während ich die Sklaven mit wenig mehr als zum Überleben notwendig abspeiste. Ich wurde immer dekadenter und leichtsinniger, wenn ich voll des Weines auf die Baustellen ging um den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren und meine Wut über ein zu langsames Vorankommen an den Sklaven auszulassen und wahllos zu misshandeln oder exekutieren. Der Traum endete immer damit, dass ich bei einem Versuch, die Sklaven einen Steinklotz, der größer als ich selbst war, auf eine ausgeklügelte Rollvorrichtung wuchten zu lassen, damit er ein Teil des Mosaiks der Pyramiden werden konnte, zusammen mit den Arbeitern von dem Fels überrollt wurde und ich schwitzend aufwachte.

Den folgenden Morgen erledigte ich meine erste Versorgungsfahrt, auf der ich bei sympathisierenden Apotheken vorbeifuhr und einige Pakete mit Mullbinden, Pflastern und anderem Verbandsmaterial einlud und zum Tahrir-Platz brachte. Ich konnte auch unbehelligt in der Nähe am Ufer des Nils parken, doch als ich mit drei Paketen beladen die Soldaten passieren wollte, hielt man mich auf. Ich hätte hier keinen Zutritt, der Platz sei überfüllt und es gäbe einen Befehl, dass niemand weiteres den Platz betreten dürfe, so teilte mir ein junger Gefreiter mit. Ich wollte eine Diskussion mit ihm beginnen, als ein älterer, vornehm gekleideter Mann, der auch auf den Platz wollte und hinter mir gestanden hatte, sich einschaltete.
»Wo liegt denn das Problem hier, Gefreiter?«, fragte er. An seinem Mantel glänzte die Nadel des Rotary Clubs Cairo Sunrise.
»Ich habe den Befehl, hier niemanden hineinzulassen, der Platz ist überfüllt.«
»Aber sehen sie sich doch einmal um«, sagte der Mann mit einer ausladenden Armbewegung. »Von Überfüllung kann doch überhaupt keine Rede sein. Es haben noch viel mehr Menschen dort Raum.«
»Ich habe den Befehl...«
»Ja, das sagten sie bereits«, unterbrach er ihn ruhig, aber bestimmt. Er holte ein von einer goldenen Geldklammer gehaltenes Bündel 200-Pfund-Scheine aus seiner Manteltasche und zählte fünf Noten ab. Das war mehr Geld, als ein Bankangestellter im Monat verdiente, und sowohl ich als wohl auch der Soldat hatten wahrscheinlich noch so viel Geld auf einmal gesehen. »Hier, ich denke, das sollte ausreichen, dass sie ihren Befehl für einige Minuten vergessen.«
Der Soldat nahm das Geld, steckte es ein, drehte sich wortlos um und ließ uns passieren. Uns folgten eine weitere große Gruppe Demonstranten, und auch sie konnten ungehindert den Tahrir betreten. Der war in der Tat zwar bevölkert, aber noch weit davon entfernt, aus den Nähten zu platzen.
»Vielen Dank, dass sie mir geholfen haben«, sagte ich zu ihm, als wir das Verbandsmaterial zum Notlazarett im Süden des sternförmigen Platzes brachten.
»Das ist doch eine Selbstverständlichkeit«, erwiderte er. »Ich bin Doktor Mustafa El-Maghrawi von der Universität in Alexandria.«
»Sehr erfreut. Ich heiße Ali Yusuf.« Ich gab ihm die Hand, nachdem ich die Kartons abgestellt hatte. »Ich fahre Taxi in Kairo.«
»Dann sind sie ja von Natur aus ein mutiger Mann und wissen bestens, wie man ans Ziel kommt.«
»Mit dem Auto schon, hier scheint es mir ein wenig umständlicher zu sein, und Mut alleine wird nicht ausreichen.«
Wir nahmen dankbar den uns von einer Krankenschwester angebotenen Tee und gesellten uns zu einer kleinen Abordnung Studenten, die sich mit einer Schischa ein wenig Behaglichkeit verschafft hatten.

Woher genau der erste Schlägertrupp kam kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ich weiß nur, dass unvermittelt eine Gruppe von etwa 50 vermummten und mit Messern, Steinen und Knüppeln bewaffneter Männer unter uns war, und ohne zu zögern auf alles und jeden einprügelte. Egal, ob Frauen, Kinder oder Greise, gleichgültig ob jemand auf dem Boden saß oder lag oder stand. Ich sah überall Blut und hörte Menschen schreien und um Gnade flehen, und Übelkeit überkam mich. Mutige Männer stellten sich den Schlägern in den Weg und versuchten sie zu entwaffnen, doch es dauerte lange, denn die Demonstranten duften nur unbewaffnet den Platz betreten und auch sie bekamen auch die Gewalt mit voller Wucht zu spüren. Andere versuchten, den Opfern zu helfen und die anwesenden Ärzte und Krankenschwestern hatten alle Hände voll zu tun. Ich hatte das Glück, dass ich das unwürdige Schauspiel zunächst aus sicherer Entfernung beobachten konnte, aber ich konnte trotzdem genau genug erkennen, mit welcher Brutalität die Männer vorgingen. Skrupellos prügelten sie auf die Köpfe auch von Frauen ein und ich betete, dass meine Begegnung mit dem Totengott kein Vorzeichen für die Ereignisse hier gewesen war. Plötzlich sah ich Xhemile wieder. Obwohl sie zierlich, nahezu zerbrechlich war, stürmte sie mit einem Stuhlbein in der Hand an mir vorbei auf die Aggressoren zu und begann, auf sie einzuschlagen, sobald sie in Reichweite gekommen war. Sie bewegte sich sehr flink und war geschickt im Abwehren der Gegenangriffe, und schnell hatte sie zwei der Männer entwaffnet. Von ihrem Mut beeindruckt nahm auch ich mir ein Herz und eilte ihr zu Hilfe, und andere taten es mir gleich. Nach langem Kampf hatten wir sie schließlich alle entwaffnet und forderten die Polizei auf, sie festzunehmen. Das tat sie sogar unwillig, doch ob ihnen jemals ein Prozess gemacht wird, wagten wir zu bezweifeln. Xhemile hatte leider doch mit einem spitzen Gegenstand einen schweren Schlag gegen die Schläfe bekommen und blutete stark. Mir drohte schlecht zu werden, aber das durfte mir jetzt nicht passieren. Ich nahm sie bei der Hand, weil sie benommen auf dem Boden kniete und wollte sie zu dem provisorischen Lazarett führen, in dem nun alles drunter und drüber ging.
»Das war mutig, aber auch wahnsinnig töricht«, sagte ich ihr, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf. Sie versuchte aufzustehen, aber sie sank immer wieder zu Boden. »Wir müssen alle tun was wir können, wenn wir Erfolg haben wollen.«
Ich wusste, dass sie Recht hatte und bewunderte ihre Bereitschaft, ihre Gesundheit und vielleicht sogar ihr Leben für die Veränderungen und den Umsturz zu riskieren. In diesem Augenblick verliebte ich mich wieder ein bisschen in sie, obwohl zu Hause meine Frau und meine kleine Tochter warteten, die ich auch über alle Maßen liebte. Ich musste mir klar machen, dass ich Xhemile nur bedingungslos bewunderte, nicht mehr. Sie konnte immer noch nicht aufstehen, und ich versuchte mich einem Arzt aufmerksam zu machen, weil ihr immer wieder die Augen zufielen und ich Angst hatte, dass sie mir in meinen Armen wegsterben würde.
»Hey, lass die Augen offen, du kannst jetzt nicht in Ohnmacht fallen«, versuchte ich sie bei Bewusstsein zu halten, und tätschelte ihre Wangen. Sie bemühte sich, ihre Lider offen zu halten, aber je länger sie dort lag, desto schwerer schien es ihr zu fallen.

»Ist hier denn keiner der ihr helfen kann? Sie blutet stark und ich kann nichts dagegen tun!« rief ich nahe an der Verzweiflung, doch dann nahm ich es selbst in die Hand, hob sie hoch und trug sie zum Lazarett, wo sich die Ärzte aufopferungsvoll um unzählige Verwundete kümmerten. Xhemile öffnete die Augen unter offensichtlich großen Mühen. Noch immer lief ihr das Blut aus der Schläfe und ihr Gesicht hatte die Farbe einer gekalkten Wand angenommen.
»Ich danke dir«, sagte sie leise. »Versprich mir, dass du jeden Tag hier sein wirst, bis wir unser Ziel erreicht haben.«
Ich spürte förmlich, wie das Leben sie verließ.
»Wir werden beide jeden Tag hier sein«, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest und zuversichtlich klingen zu lassen. Sie lächelte tapfer.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie und ihre Augen fielen wieder zu. »Tu es für uns alle, für unsere Zukunft«, fuhr sie nach langen, schweren Atemzügen fort, »aber vor allem um deinetwillen. Es ist das wichtigste zu wissen, dass du etwas verändern kannst.«
Endlich wurde eines der Feldbetten frei, ich legte sie darauf und eine junge Ärztin kam uns zu Hilfe.
»Tun sie bitte etwas«, flüsterte ich. »Bitte. Lassen sie sie nicht sterben.«
Sie beugte sich über Xhemile und sah sich die Wunde an, die nun nicht mehr blutete. Dann fühlte sie ihren Puls, prüfte ihren Atem und sah mich traurig an.
»Selbst wenn ich in einem Krankenhaus wäre, könnte ich wenig unternehmen. Aber hier draußen...« Ich spürte wie sich mein Hals zuschnürte. »Halten sie ihr noch die Hand, so lange sie können. Das wird ihren Weg leichter machen.«
Also nahm ich wieder ihre Hand, betrachtete ihr schönes, aber blutverkrustetes Gesicht und wartete, bis sie von uns gegangen war. In der Zwischenzeit hatte die Ärztin schon ein Motorrad organisiert, das die Leiche fortbrachte, damit auf dem Feldbett Platz für den nächsten Verwundeten frei wurde.

Vor allem im nördlichen Teil des großen Platzes, nahe des Nationalmuseums, überfielen hunderte, wenn nicht noch mehr Angreifer, sowohl die von Regierungskreisen bezahlten Schlägertrupps als auch Zivilpolizisten sogar auf Pferden und Kamelen, die unbewaffneten Demonstranten. Währenddessen blickten die anwesenden Polizisten und Militärs in eine andere Richtung, ließen sie ungehindert passieren und taten nichts, um den unschuldigen Opfern zu helfen. Ihre Schutzfunktion und ihre Neutralität hatten sie spätestens in diesen Augenblicken endgültig aufgegeben und vielen meiner bisher noch gutgläubigen Landsleute öffnete dies schlagartig die Augen. Der Kampf tobte mehrere Stunden, und als sich am Abend die angeblichen Anhänger des Präsidenten zurückzogen gab es mehr als zehn weitere Tote zu beweinen und weit über tausend Verletzte waren versorgt worden oder warteten noch auf Behandlung.

Die regierungsnahe Zeitung Al-Ahram würde am nächsten Tag schreiben, dass Unstimmigkeiten unter den Demonstranten zu den Auseinandersetzungen geführt hatten, aber alle, die es mit eigenen Augen gesehen hatten wussten, dass das eine Lüge und billige Propaganda war mit dem Ziel, einen Keil zwischen die Regimekritiker zu treiben. Auch das Staatsfernsehen tat sein Übriges, und so wurden auf dem Platz am Folgetag Stimmen laut, dass wir zum Maspero, dem Hauptquartier der staatlichen Rundfunk- und Fernsehgesellschaft marschieren sollten, das nicht weit vom Tahrir in der Nile Corniche am Nilufer stand, und eine Richtigstellung zu fordern. Und tatsächlich machte sich auch ein Teil der Menge auf den Weg. Ich folgte ihnen nicht, denn ich hatte hier meine Aufgabe gefunden, wenngleich es mir wichtig war, dass so viele Ägypter wie möglich die Wahrheit erfuhren. Auch wenn das Internet und das Mobilfunknetz von staatlicher Seite kontrolliert wurde und zurzeit auch in weiten Teilen lahmgelegt worden war, so kursierten doch viele mit Smartphones aufgenommene Videos im Netz, die die Brutalität des Vorgehens von gestern schonungslos dokumentierten. Auch Al-Dschasira strahlte sie aus, was viele im In- und Ausand sahen und die Wut der Bevölkerung steigerte und den Hass auf das Regime weiter schürte.

Diesen Morgen fuhr ich ein paar wenige Fahrten, um Decken und Medikamente aus dem Abbassia Hospital abzuholen, aus dem einige Ärzte hier freiwillige Sonderschichten ableisteten. Doch das Benzin war inzwischen knapp geworden und ich wollte wieder auf den Platz, um mich den Reihen der Demonstranten anzuschließen, so wie ich es Xhemile und mir selbst versprochen hatte. Nach den Ereignissen des 2. Februar war die Stimmung gedrückt, die Menschen wirkten ängstlich und resigniert und es waren deutlich weniger Menschen gekommen und gesungen wurde kaum. Vielen war die Angst anzumerken, dass sich die Ereignisse wiederholen könnten. Mittlerweile erkannte ich einige der Gesichter wieder, und am frühen Nachmittag sah ich den Professor, den ich gefahren hatte, bevor wir Xhemile vor den Polizisten gerettet hatten. Er erkannte mich wieder und kam auf mich zu.
»Ich freue mich, sie zu sehen«, sprach er mich freundlich an, obwohl mich ein schlechtes Gewissen plagte, dass ich ihn dort alleine gelassen hatte.
»Und ich freue mich sehr zu sehen, dass sie unbeschadet geblieben sind. Aber ich musste vorgestern die junge Frau in Sicherheit bringen.«
»Das verstehe ich voll und ganz«, antwortete er. »Ich konnte mich gegen ein paar Pfund aus ihrem Zugriff lösen, einer der wenigen Momente, in denen ich für die Korruption hier dankbar gewesen bin. Wie geht es ihr?«
Der Gedanke an sie trieb mir wieder Tränen in die Augen und ich blickte zu Boden.
»Sie ist gestern bei den Unruhen hier ums Leben gekommen«, erwiderte ich leise. »Sie starb gewissermaßen in meinen Armen. Ich kannte sie aus meinem Heimatort. Sie hieß Xhemile.«
Fassungslos sah er mich an. Dann nahm er mich bei den Schultern.
»So kann es nicht weitergehen, junger Freund. Wir dürfen das nicht tolerieren. Wir müssen weiter kämpfen, und wenn der Tod einer jungen, mutigen Frau nicht das Volk aufrüttelt, zu einer Revolution bewegt, was soll es denn dann möglich machen?«
Das wusste ich nicht, und auch wenn mich dieser trübe, kalte Februartag nicht ermutigte, durfte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir es schaffen würden. Aber es war das erste Mal, dass ich mir bewusst machte, dass wir es wirklich mit einer Revolution zu tun hatten, eine, die wir als Volk selbst auslösen konnten, und das machte mich stolz, in diesen Tagen dabei zu sein. Meine Gedanken wanderten zurück zu Xhemile und mir wurde deutlich, wie sehr sie es geliebt hätte, dies mitzuerleben, auf der anderen Seite aber auch schon unlöslich mit dem Erfolg verbunden sein konnte, wenn sie vielleicht zu einer Märtyrerin würde.
Das sagte ich dem Professor und ich führte ihn zu der Klagewand, an denen die Bilder der während der Demonstrationen Getöteten hingen, und zeigte auf eines. Die Ärztin hatte es mir geschickt, und geschrieben, dass ich nie vergessen solle was geschehen ist, dass ich ihr Andenken in Ehren halten solle und dass ihre Seele nun ein Stück weit in mir wohne, weil ich ihr den Weg ins Jenseits ein wenig leichter gemacht hätte. Ich hätte es ohnehin nie vergessen können, aber das Bild druckte ich aus und hängte es hier auf, damit alle es sehen sollten. Er nahm das Bild mit ihrem blutigen, aber im Tode friedlichen Gesicht, betrachtete es eingehend, und machte dann ein Foto davon.
»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte er. »Aber verzeihen sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Hamdy Hassan, ich bin der Dekan der Fakultät für Massenkommunikation an der Misr International University.«
Wir schüttelten uns die Hand.
»Ich werde versuchen, über meine Beziehungen an der Universität und in der Presse da etwas möglich zu machen.« Dann verabschiedete er sich von mir und verschwand in der Menge.

Immer wieder machten Nachrichten die Runde, dass es zu schweren Auseinandersetzungen vor dem Maspero gekommen sei, das von der Armee umstellt war, um die Schuldigen für die Verbreitung der Lügen über das Massaker vom 2. Februar zu schützen. Die aufgebrachten Demonstranten sollten mit Steinen auf die Soldaten geworfen haben, die mit Reizgas und Gummiknüppeln geantwortet hätten und es habe viele Verletzte gegeben. Sogar von erneuten Todesfällen war die Rede, und die Spannung auf dem Tahrir stieg minütlich, auch wenn die uns bewachenden Streitkräfte keine Anstalten machten, gegen uns vorzugehen und sich vernünftigerweise die Menschen auf dem Platz auch nicht angestachelt fühlten, sie herauszufordern. Aber nach einigen Stunden kehrten viele vom Maspero zurück und konnten uns zumindest beruhigen, dass es keine weiteren Todesopfer zu beklagen gab und auch den Verletzten zumindest schnell geholfen werden konnte, und diese auch nicht durch das Militär zu Schaden gekommen seien sondern durch die Masse der Menschen gegen den Stacheldraht gedrückt worden waren. Verantwortliche der Militärführung und des Senders hatten versprochen, dass es bald eine Fernsehansprache des Staatspräsidenten geben würde. Die Stimmung stieg schlagartig, denn die Möglichkeit seines Rücktritts schien dadurch zum Greifen nah.

In den folgenden Tagen blieb es ruhig auf dem Tahrir, allerdings kam es in den Nebenstraßen und auch Vororten immer wieder zu Scharmützeln mit von aus Regierungskreisen bezahlten Banden. Ihr Ziel war offensichtlich, die Angst vor Plünderern und organisiertem Verbrechen zu schüren und Rufe nach der starken Hand des Militärs laut werden zu lassen. Allerdings gelang es der Bevölkerung schnell, sich zu ordnen und eigene Bürgerwehren zum Schutz des Eigentums und der Unversehrtheit aufzustellen. Überhaupt hatten wir es in den letzten Tagen immer besser verstanden, uns zu organisieren, so dass die Demonstranten, die seit langem ununterbrochen auf dem Platz ausharrten, nie Hunger, Kälte oder Durst leiden mussten und der Platz bewundernswert sauber gehalten wurde. Ich fuhr wie schon zuvor morgens meine Versorgungstouren und gesellte mich dann für den Rest des Tages zu meinen Mitstreitern auf dem Tahrir. Ich spazierte in alle Richtungen über den Platz, grüßte Freunde und entfernte Bekannte und sprach oft und ausführlich mit mir völlig Fremden. Aber unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht und sozialer Stellung waren wir uns einig, dass wir aushalten mussten, bis wir unsere Forderungen nach Mubaraks Rücktritt, Neuwahlen und mehr Mitbestimmung durchgesetzt hatten.

Nachmittags trat ich zu einem Kreis von Studenten, die gerade einen großen Karton öffneten und die darin verpackten Plakate untereinander verteilten. Zu meiner großen Überraschung war dort ein überlebensgroßes Bild von Xhemile abgedruckt, mit dem Slogan »Husni, hier endet es!« in großen Buchstaben darüber. Sie gaben mir auch eines und ich hielt es stolz und überwältigt in die Höhe und hoffte, dass wir Recht behalten würden. Im Laufe des Tages sah ich immer mehr Menschen mit dem Plakat, und selbst in den Zeitungen Shorouk und Al Masry Al Youm am kommenden Morgen war ihr Foto auf der Titelseite. Hamdy Hassan hatte Wort gehalten und ganze Arbeit geleistet. Ich lief den ganzen Tag umher und suchte ihn, um mich bei ihm zu bedanken, konnte ihn aber leider nirgendwo finden.

Abends kam ich müde nach Hause zu Sarah und Leah.
»Wir sehen uns kaum noch«, beklagte meine Frau sich nach dem vierten Tag. »Morgens bist du früh hoch, so dass du Leah gar nicht mehr siehst, und abends kommst du so spät nach Hause, dass sie schon wieder im Bett ist und bist selbst so müde, dass du gleich einschläfst.«
»Das tut mir leid und auch weh«, sagte ich und küsste sie auf die Stirn. »Aber ich mache es doch auch für uns, für unsere Zukunft, dafür, dass Leah in einem besseren Land aufwächst als es uns vergönnt war. Du solltest einmal mitkommen, du wirst staunen, wie viele wir sind und was wir alles auf die Beine gestellt haben. Vielleicht können wir unsere Tochter ja bei Tabita oder Rahel lassen.« Sie sah mich skeptisch an, und ich nahm sie sanft in den Arm. »Es würde mir viel, sehr viel bedeuten.« Sie seufzte, dann nickte sie und lächelte mich aus ihren dunklen Augen an. »Wie ich dich kenne, kann ich dich ohnehin nicht davon abbringen. Aber gut, ich kümmere mich darum.«
»Ich danke dir«, sagte ich. »Komm, lass uns ins Bett gehen.«

Die Lazarette hatten sich dankbarerweise gelichtet, alle schwerer Verwundeten hatten inzwischen Betten in richtigen Krankenhäusern gefunden, so dass die aufgestellten Feldbetten die Nächte für die Dauerdemonstranten ein klein wenig angenehmer werden ließen. Es waren immer noch mehrere tausend, die seit Beginn dabei waren, und tagsüber waren wir ein Vielfaches davon. Das Militär zeigte unverändert Präsenz, hinderte aber mittlerweile niemanden mehr daran, sich der Kundgebung anzuschließen. So konnte ich unbehelligt meine Lieferfahrten durchführen, denn auch die Benzinversorgung hatte sich normalisiert. Anstatt medizinischem Nachschub konnte ich nun von verschiedenen Bäckern und Gemüsehändlern Lebensmittel in größeren Mengen anliefern. Inzwischen hatten wir in der ganzen Stadt Unterstützer, die es sich zwar nicht leisten konnten, ihre Arbeit zu vernachässigen, aber uns aushalfen, wo sie nur konnten. Mittlerweile kam der Platz vielen von uns beinahe wie eine zweite Heimat vor. Dennoch wuchs die Ungeduld, und das Warten auf die versprochene Fernsehansprache Mubaraks fiel uns immer schwerer.

Am 10. Februar begleitete mich meine Frau das erste Mal auf den Al-Tahrir-Platz. Unsere kleine Leah hatte sie bei unserer Freundin Rahel untergebracht, deren Sohn in den gleichen Kindergarten ging. Sie wolte einmal mit eigenen Augen sehen, was denn so wichtig für mich sei, dass ich es tagein, tagaus tun musste, ohne dass ich etwas dafür bekam. Natürlich hatten wir durch die fehlenden Taxifahrten zurzeit noch weniger Geld als sonst. Nachdem wir dort eintrafen, verbreitete sich das Wort schnell, dass heute Großes passieren würde, sei es, dass der Platz vom Militär geräumt würde, sei es, dass Mubarak seinen Rücktritt erklären würde. Die Armee blieb aber ruhig, auch wenn sie mit Panzern den Platz umstellt hatte und so offen ihre unbezwingbare Stärke demonstrierte. Am späten Nachmittag wurden aber tatsächlich eine Videowand aufgebaut. Gespannt warteten wir, was der Staatspräsident uns zu sagen hatte und eine beinahe greifbare Vorfreude lag in der Luft. Aber als Muhammad Husni Mubarak endlich auf den Bildschirmen erschien, gab es statt einer Abdankung nur einige halbherzige Zugeständnisse und Kompromisse, Verzögerungen und voraussichtlich leere Versprechungen. Krampfhaft klammerte er sich an die Macht, obwohl er gesundheitlich keinen Eindruck erweckte, als ob er dazu noch lange in der Lage sein würde. Unmut machte sich auf dem Platz breit und die Menge drängte in Richtung der umstehenden Soldaten, verhielt sich aber friedlich und von beiden Seiten blieb wurde auf Gewalt verzichtet. Die Rufe »Mubarak, an deinen Händen klebt Blut!« und »Husni, hier endet es!« wurden lauter, und wieder sah ich die Plakate mit Xhemiles Bild um mich herum. Noch immer zitterten meine Hände, wenn ich an sie dachte, aber ich schaffte es, mir Sarah gegenüber nichts anmerken zu lassen.

Das Telefonnetz war inzwischen wieder freigegeben. Ich telefonierte mit unserer Freundin um sicherzustellen, dass Leah für die Nacht gut aufgehoben war und konnte Sarah überzeugen, auf dem Platz trotz Angst, Kälte und Frustration zu übernachten. Uns blieb die Hoffnung, ein Regentropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte, und alle, mit denen ich sprach, teilten diese Zuversicht. Wir schliefen schlecht und nur kurz, aber der Morgen war klar und sonnig und unermüdliche Helfer brachten uns Kaffee, Tee und Foulbohnen zum Frühstück, so dass uns bald wieder warm war und wir mit den bekannten Wechselgesängen fortfuhren. Trotz der Militärpräsenz strömten weiterhin mehr und mehr meiner unzufriedenen Landsleute auf den ›Platz der Befreiung‹ und drängten sich in den breiten Straßen, die zu ihm führten und bis auf die Kasr Al-Nile-Brücke. Niemand weiß genau, wie viele wir schließlich waren, es sollen mehrere Hunderttausende gewesen sein, doch mir kam es vor, als hätte sich die ganze riesige Stadt hier versammelt.

Mittags verbreitete sich das Gerücht, dass Husni Mubarak mit seiner Frau und den beiden Söhnen die Stadt in Richtung Scharm El-Scheich im Sinai verlassen hätte, und er versuche, sein über Jahrzehnte durch krumme Geschäfte angehäuftes unfassbares Vermögen in der Schweiz in Sicherheit zu bringen. Bald gingen die Bildschirme wieder an, und der erst kürzlich neu eingesetzte Vizepräsident Omar Suleiman trat vor die Fernsehkameras. Die Tatsache, dass nicht der Präsident selbst erschien, ließ eine Welle der Euphorie über den Tahrir hereinbrechen. Mit versteinerter Miene verlas er eine Erklärung Mubaraks, die seinen sofortigen und vollständigen Rücktritt verkündete, den Militärrat als Regierung einsetzte und baldige Neuwahlen versprach. Das war zwar weniger als erhofft, und wir wussten, dass noch viel Wasser den Nil, unsere Lebensader, hinabfließen würde, bis sich wirklich Veränderungen bemerkbar machen würden. Aber ein Aufschrei ging durch die Menge und die Menschen fielen sich in die Arme, sangen und tanzten, schwenkten unsere Landesfahne und trommelten, und feierten wie nur wir Ägypter feiern können, gleichgültig, wie müde wir auch sein mochten. Heute war es, als könne es kein Morgen geben. Selbst die Soldaten um uns herum schienen die Stimmung zu genießen, und ich sah, wie ein junger Leutnant einer alten Frau an der Absperrung eine Zigarette reichte und sie ihr anzündete.
»Siehst du«, sagte ich zu meiner Frau, »deshalb bin ich jeden Tag hier, um das erleben zu können.« Ich küsste sie. »Heute ist ein guter Tag. Danke, dass ich ihn mit dir teilen darf. Ich liebe dich.«


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