h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Härter als jetzt und weniger doof.

Gerade war ich unfreiwillig aus der U-Bahn ab-gesprungen und rollte mich den Bahnsteig an den Landungsbrücken herab. Na herzlichen Dank, dachte ich, was suchen Kontrolleure denn um diese gotteslästerliche Uhrzeit in der Bahn, eine Zeit, zu der normalerweise jeder anständige Bürger dieser Stadt im Bett liegt – ob das nun sein eigenes sein muss, lasse ich mal dahingestellt sein. Natürlich war es fünf Uhr morgens, und natürlich muss man auch dann eine Fahrkarte bei sich führen, aber das war dennoch kein Grund für die Ordnungskräfte, mich nach nur einer Station hochkant wieder aus dem Abteil zu werfen. Nun gut, vielleicht mochte mein glasiger Blick und mein unsicheres Auftreten auch etwas dazu beigetragen haben. Kein Grund, mich vor eine Hafenfähre zu werfen.

Wo ich aber denn schon am Hafen gestrandet war, konnte ich mir auch noch in Ruhe den Sonnenaufgang und den Fischmarkt und vielleicht auch ein Fischbrötchen auf der Zunge zergehen lassen. Ich trat aus dem Bahnhof und stieg die Stufen zur Brücke 2 hinab. Das Morgenrot machte sich am Elbhorizont frisch, und ich ging die Hafenstraße in Richtung Fischmarkt hinauf.

An der Hafentreppe vorbeigehend traf ich noch einige verstreute Nachtgestalten, auch Richard von den Sternen lief mir über den Weg, und er sah noch schusseliger aus als sonst in der Bibliothek. Aber wie bereits erwähnt war es schließlich schon früh am Tag. Vielleicht zum ersten Mal fiel mir wirklich auf, dass die legendären Hafenstraßenhäuser dem Erdboden gleichgemacht worden waren und ein Loch hinterlassen hatten in der St. Pauli-Kulisse, die ich schon so oft von unten oder auch oben bewundert hatte. Auf an Stromkästen geklebte Paketadresskarten hatten Freigeister tiefsinnige Botschaften wie „Use Your Brain“ hinterlassen. Jede Rebellion wird irgendwann von ihren Kindern aufgefressen, dachte ich, und vielleicht steht jetzt ja auch der eine oder andere ehemalige Hausbesetzer in Lohn und Brot bei den Planungsfirmen der Neubebauung der Bernhard-Nocht-Straße, wundern würde mich das nicht.

Ich überquerte die Hafenstraße auf der Fußgängerbrücke am Pudel und blinzelte in Richtung der Containerkräne im Köhlbrand, die sich gegen die Morgensonne erhoben. Früher, als Kind, hatte ich davon geträumt, als Seemann auf den großen Schiffen die Weltmeere zu erobern, aber mit zunehmenden Alter und Realitätssinn wurde klar, dass ich dafür erstens konstitutionell nicht ausgeprägt genug war, und zweitens die so genannte Seefahrerromantik wahrscheinlich ohnehin nicht einmal zu glorreichsten Piratenzeiten wirklich romantisch war, zumindest aber ein höchst anstrengender Job. Heutzutage war selbst von den letzten Spuren einer glorreichen Zeit nur noch eine schlecht bezahlte Knochenarbeit geblieben, die nicht einmal mehr das Vergnügen einer preisreduzierten Prostituierten als Bonus bot.

In Höhe des Fischerhauses stieg ich die Treppe hinunter und befand mich mitten im Gewimmel der frühaufstehenden Marktbesucher – ich schätzte dass mindestens die Hälfte davon allerdings genau wie ich noch gar nicht zu Bett gegangen waren. Ich schlenderte an den noch nicht allzu sehr von Touristentrauben behangenen Fisch,- Gemüse- und Krempelständen vorbei zum per Nomenklatur bestimmten Fischmarkt an sich.

Aale-Dieter schien trotz hochsommerlichen Temperaturen etwas verschnupft und nicht gerade in Hochform zu sein. Zumindest klang sein Lockruf eher heiser zu mir herüber, als ich durch die Gassen zwischen den Verkaufsbuden schlenderte und mir die frischen Seefische in den Auslagen zublinzelten. Ich blieb an einem Stand stehen und begutachtete die Ware. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht eben in der Lage war, mir einen ganzen Fisch zu braten, so konnte ich mir doch durchaus ein Exemplar kaufen und mir später zu Hause zu Gemüte führen. Ich begutachtete die Auswahl an auf Eis gelegten Schollen, Lachsen, Aalen, Heringen, Dorschen, Doraden, Makrelen, Flundern, Katzenhaien, Garnelen, Tintenfischen und anderen Früchten der Meere, konnte mich aber so spontan nicht mit einem von ihnen anfreunden, also ging ich weiter in Richtung Wasser und lehnte mich für einen Moment an den Zaun und schaute auf den Hafen.

Kurz darauf gesellte sich ein Pärchen zu mir. Ich blickte zur Seite, und neben mir stand eine Frau mit rostbraunen Haaren, die mir merkwürdig bekannt vorkam. Ich bewegte diverse Frauenbilder in meinem Kopf herum, angefangen von meiner ersten Kindheitsfreundin aus der Nachbarschaft über diverse meistens traumatisch endende Traumbilder meiner Schulzeit bis hin zu nebulösen Partybekanntschaften der letzten Zeit. Hatte ich sie vielleicht erst heute Nacht getroffen?

Sie blickte erst gedankenverloren auf die Hafenkulisse, küsste dann lächelnd ihren Freund, Ehemann oder was auch immer der Mann neben ihr darstellte, und hakte sich bei ihm unter. In diesem Moment wurde mir klar, wo ich dieses Lächeln schon einmal gesehen hatte. Vor vielen Jahren, sie ging auf die gleiche Schule wie ich, und musste zwei oder drei Jahre jünger als ich gewesen sein, hatte ich ein Gedicht für sie geschrieben. Der genaue Wortlaut war mir nicht mehr präsent, aber es ging um einen Namen wie der Beginn einer Götterdämmerung, ein Lächeln, halb schüchtern und halb frivol, das selbst auf dem Titelbild von Vogue verschwendet gewesen wäre und einen Hintern, der jegliche Form von Analerotik geradezu provozierte.

Die Sonne reckte ihre Fühler über die Hafenanlagen im Osten und beleuchtete ihr Gesicht aus einer ihr überaus schmeichelnden Einstellung. In goldiges Licht getaucht betrachtete ich ihre Silhouette gegen die Verladekräne am Köhlbrandhöft.

Ihr Name fiel mir wieder ein, die Erinnerung an das Lächeln enttäuschte mich nicht und ein prüfender Blick auf diesen Arsch in ihrer Jeans übertraf nach all den Jahren meine kühnsten Erwartungen.

In dieser frühen Stunde und in einem tranigen Augenblick haderte das Schicksal mit mir, als es mir einreden wollte, dass ich es unbedingt darauf anlegen sollte, herauszufinden, ob sie sich auch an mich erinnerte. Die Chancen dazu standen nicht besonders gut, auch wenn es mir damals immerhin vergönnt gewesen war, beizeiten mit ihr zu reden und sogar im gemischten Doppel Tennis gegen sie zu spielen. Doch ich konnte guten Gewissens bezweifeln, dass ich bei ihr einen Eindruck hinterlassen hatte, der sie Gedichte über mich schreiben ließ.

Meine innere große Schwester Verdanis raunte mir zu, dass ich den Kerl neben ihr einfach ignorieren solle und vor ihr mein Gedicht aus Jugendzeiten rezitieren, die Reaktion von ihr würde umwerfend ausfallen.

Ich hatte unterdessen zumindest den Anfang des Gedichtes rekonstruiert. „Ich liebe deinen Namen, dein Lächeln, und deinen Arsch“.
Ja sicher, dachte der Teil meines Verstandes, der nicht an Schicksal glaubte, egal, ob sie sich an mich erinnerte oder nicht, sie würde mir so oder so eine reinhauen. Und wenn nicht sie, dann eben der Mann an ihrer Seite, der zu allem Unglück auch noch wie ein Pornodarsteller aus den Achtzigern aussah, komplett ausgestattet mit blondgelockter Matte, Schnauzbart und wahrscheinlich höchst imposanten Gemächt. Ich konnte mir keinen anderen Grund ausmalen, weshalb ein derart zauberhaftes Geschöpf von einem solchen Unsympathen eingefangen und eingenommen werden konnte.

Allerdings konnte ich mich nicht beherrschen, neben scheinbar interessierten Blicken auf den Hafen auch scheinbar uninteressierte Seitenblicke auf die ominöse Bekannte zu werfen, in der Hoffnung, sie könnte eines der Augen, das nicht gerade auf ihren nahezu preisgekrönten Hintern geworfen wurde, auffangen, mich wieder erkennen und Dinge zu mir zu sagen, die ich mir zwar ausmalen konnte, aber in diesem Leben nicht mehr mit dieser annähernd mystischen Person erwarten wollte.
Mit allem Mut, den ich jemals aufbringen konnte, schaute ich in ihre großen, von buschigen dunklen Brauen gekrönten Augen, hartnäckig davon überzeugt, dass diese mich in einer mir vorteilhaften Weise wiedererkennen mussten.

„Sag mal, kenn ich dich...“ wollte ich beginnen, aber natürlich war das die dämlichste, altbackenste und vorhersehbarste Anmache die im deutschsprachigen Raum bekannt war, hinzu kam ihr männlicher Begleiter, der neben uns stand wie der Rammbock des Damokles.

„Hey, du bist doch...“ Na das war auch nicht viel eleganter, aber natürlich viel persönlicher, denn ich kannte immerhin ihren Namen. Den Namen, der den einleitenden Donnerhall des Gedichtes eröffnen sollte. Ich fühlte meinen persönlichen Wagner in mir aufsteigen, doch auch die grandiose Kulisse des Hafens überwand leider nicht den inneren Feigling in mir, meine innere Norne hob nur noch hilflos die Schultern, und ich schwieg.

Ich versuchte trotzdem, meinem Blick in ihre Rehaugen zu bohren, doch sie widerstand meinem faustischen Verlangen. Für den Bruchteil des Augenblicks erhaschte ich noch einen erkennenden Moment in ihrer braunen Pupille, aber dann wandte sie sich doch ab, festigte den Armhaken mit ihrem Begleiter und entfernte ohne Erkenntnis oder Erinnerung an mich ihren Arsch der Ärsche in Richtung der Fischauktionshalle.

Ich blickte den rhythmischen, beinahe tänzelnden Bewegungen noch solange verträumt hinterher, bis sie sich im Fischmarktgewusel verloren. Ein zauselbärtiger Putzteufel im Blaumann stieß mich mit seinem Besenstiel an und riss mich aus meinen nicht eben jugendfreien Illusionen.

„Eh, pass auf wo du rumstehst und was für Ärschen du hinterher glotzt. Das ist hier nicht der Herbert, und ich muss hier jetzt fegen.“

Ich trat ein paar Schritte von dem Zaun zurück und ließ den Reinmachemann gewähren, auf ein Mal zu müde, um mich mit ihm anzulegen, um überhaupt noch ein Wort zu viel von mir zu geben.

Ich gähnte lange und herzhaft und ging los, um mir von meinem letzten Bargeld noch ein frisches Bismarckheringbrötchen zu kaufen, solange es denn noch frisch war. Als ich das Brötchen in der Hand hielt, war mir so, als ob ich noch einmal ihren Hintern ein paar Meter weiter an einem Fischverkaufsstand stehend erspähen konnte, aber als ich meinen Blick höher richtete, sah ich eine lange blonde Mähne und wusste, dass ich mich geirrt hatte.

Ich biss in mein Brötchen und schickte mich an, den Pepermölenbek, vorbei an der rot-weißen Jalousienfassade und dem Spielplatz unter der Brücke in Richtung Reeperbahn hinaufzusteigen. Ich hatte kein Geld mehr in den Tasche, die Sonne im Rücken, und ein unerreichtes Symbol des Herzens im Sinn und kam zum Schluss, dass man weitermachen muss. Aber erst einmal wollte ich am Nobistor in den Tunnel steigen und mich von dort per S-Bahn nach Hau-se kutschieren lassen. Dann würde ich schon weitersehen. Die Nornen würden schon weiter gießen.



(c) 2013 www.haukepreuss.de