h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Kati.

Sie wurde von einem älteren Ehepaar gefunden, das gerade im Wald mit dem Hund seinen Abendspaziergang machte. Die beiden halfen ihr aufzustehen und brachten sie in ihr bescheidenes Haus. Dort setzten sie die junge Frau auf das Sofa, deckten sie mit einer wärmenden Wolldecke zu und gaben ihr eine heiße Gemüsebrühe zu trinken, damit die Kälte aus ihr vertrieben würde.

Die ältere Frau begab sich sogleich in ihre karge Küche und bereitete aus Stampfkartoffeln, durchwachsenem Speck und grünen Bohnen ein sättigendes Mahl für die schätzungsweise dreißigjährige Frau in der Stube, die nach ihrem Dafürhalten doch sehr abgemagert, wenn nicht gar verhärmt aussah.

Nachdem die Frau ihren Becher geleert und vor sich auf dem niedrigen Holztisch abgestellt hatte, versuchte der Mann behutsam von ihr zu erfahren, was ihr denn widerfahren sei, dass sie sich in dieser unwirtlichen Jahreszeit in den dunklen Wald verirrt hatte und schließlich offenbar müde und entkräftet am Wegesrand zusammengebrochen sei.

Immer wieder habe sie sich nach Feierabend in ihr Auto gesetzt und sei losgefahren, begann sie nach einer Weile des Schweigens zögerlich und mit leiser Stimme zu erzählen. Einfach los und drauflos, ohne Ziel, ganz wie damals Katharina Blum, verglich sie. Doch wie von Geisterhand gelenkt sei sie schließlich stets wieder an der gleichen Stelle angekommen. Wie sie es sich zu Eigen gemacht hatte, sei sie dort immer aus dem Wagen gestiegen und den Weg in den Wald hinein gegangen. Nur sehr selten sei sie dort einer Menschenseele begegnet, und stets habe sie auch den schwach beleuchteten Pfad zum Parkplatz zurück gefunden. Warum sie sich dieses Mal so sehr verlaufen habe, dass es so endete, könne sie sich beim besten Willen nicht zusammenreimen. Möglicherweise sei es dieses Mal einfach alles zu viel auf einmal gewesen. Sie verfiel wieder in bedrücktes Schweigen.

Der Mann ließ sie daraufhin kurz zurück, um in der Küche nach seiner Frau zu sehen und ihr dabei ein wenig Zeit zum Nachdenken zu gewähren. Unterdessen ging sie, trotz der eisigen Kälte, auf den Balkon und zündete sich zitternd eine Zigarette an. Wahrscheinlich hätte sie ebenso gut auch drinnen rauchen können, aber sie war daran gewöhnt, dies draußen zu tun, und sie wollte ihren Gastgebern nicht noch mehr zur Last fallen, als es ohnehin schon der Fall sein musste.

Es gebe für sie meistens nur zwei Möglichkeiten, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam, berichtete sie dann weiter, als sie zu Ende geraucht hatte und der Mann sich wieder ihr gegenüber in den Sessel setzte. Entweder setze sie sich in ihr Auto und mache sich auf den Weg. Auf diesen Fahrten höre sie immer die gleiche CD, ohne Pause lasse sie den CD-Player in Endlosschleife laufen. Sie könne nicht anders, auch wenn ihr bei bestimmten Liedern mit beeindruckender Präzision die Tränen in die Augen schossen, so dass sie genau betrachtet nicht mehr fahrtüchtig sei. Und doch passiere ihr dabei nie etwas, als würde von irgendwo ein Schutzengel ihr das Lenkrad führen. Sie zog die kratzende Wolldecke enger um ihren mageren Körper.

Oder sie gehe in die Wirtschaft an der Ecke ihres Häuserblocks und trinke dort alleine in einer Ecke ein Glas Rotwein nach dem anderen, bis sie mit dem Kopf auf dem Tisch einschlafe oder Paul, der Inhaber des Lokals, schon vorher schließen wolle und sie sanft, aber bestimmt, zum Ausgang geleite.

Sie habe sich auch angewöhnt, sich alles penibel zu notieren, gestand sie. Wie oft sie täglich auf die Toilette ging, und wie oft sie dabei Stuhlgang hatte. Sie schreibe in ein Notizbuch, wann sie welche Marke Toilettenpapier gekauft hätte, und wie viele Wochen sie mit diesen acht oder zehn Rollen auskäme. Wenn sie ein Glas Senf kaufe, schreibe sie das Datum mit Filzstift darauf, und auf jeder Packung Waschmittel protokolliere sie den Tag des Kaufes und die Anzahl der Wäschen mit Hilfe einer Strichliste auf der schmalen Seite. Sämtliche Einkaufsbons klebe sie akkurat in einen ledergebundenen Kalender, damit sie genau verfolgen könne, welche Dinge sie in welchem Geschäft besorgt hätte und wann das gewesen sei.

Die ältere Frau kam mit einem Teller dampfenden Essens aus der Küche und stellte ihn auf den Tisch. Sie nickte der jüngeren dabei freundlich zu, und diese nahm das Angebot auch dankbar lächelnd an. Für einige Minuten war in der Stube nichts weiter zu hören als das Klappern des Löffels auf dem Porzellan und das Ticken der alten Standuhr in der Ecke. Nachdem sie den Teller leer gegessen hatte, bedankte sie sich schüchtern aber höflich für alle geleistete Hilfe bei dem Paar. Sie streichelte den kleinen Terrier, der es sich zu ihren Füßen bequem gemacht hatte, dann stand sie auf und ging zur Haustür.

Der Mann wandte ein, dass es vielleicht nicht sehr weise sei, wenn sie jetzt schon wieder alleine im Dunkeln auf die Straße ginge und bot ihr an, dass sie doch diese Nacht in ihrem Hause übernachten könne, damit sie sich auch vollends aufwärmen könne. Es würde auch ganz sicher keine Umstände machen, im Gegenteil, sie wären froh, wenn sie ihr mit ihren bescheidenen Mitteln helfen könnten. Das Mindeste sei aber, dass er und der Hund sie begleiteten, damit sie auch sicher zu ihrem Auto zurückfände.

Die junge Frau aber erschrak und bat, dass es nicht persönlich genommen werden solle, doch sie könne nicht so einfach hier bleiben, sie müsse unbedingt noch nach Hause zurück und morgen in der Frühe auch wieder zur Arbeit. Sie warf sich hastig ihren Mantel über, den die ältere Frau von dem Laub und Schmutz gereinigt hatte, den er gesammelt hatte, als sie am Wegesrand gelegen hatte.

Der ältere Mann versuchte noch einmal, sie umzustimmen und regte an, dass sie ihnen doch erzählen möge, was hinter ihren verzweifelten Rundfahrten stecken mochte, natürlich nur dann, wenn es sie denn nicht zu sehr schmerzte, dieses wildfremden Menschen wie ihnen anzuvertrauen.

Daraufhin schüttelte die jüngere Frau energisch den Kopf und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. Dies war das erste Mal, dass sie eine derart heftige Reaktion zeigte. Doch unmittelbar darauf entspannten ihre Züge sich wieder, und sie entschuldigte sich für ihr ungebührliches Verhalten. Sie würden es schließlich nur gut mit ihr meinen, das wisse sie wohl, und hätten dieses Gebaren nicht verdient. Sie reichte den beiden ihre Hand zum Abschied und griff dann in die Innentasche ihres Mantels, aus der sie ein kleines, abgegriffenes Photo hervorholte.

Sie zeigte es dem Paar und erklärte dabei entschuldigend und zögernd, dass dies ihr Sohn gewesen sei, im Alter von vier Jahren, doch sie habe ihn dort, an jener Stelle in diesem Wald an einen Triebtäter und Mörder verloren. Nun müsse sie scheinbar immer wieder zurückkehren, seit vielen Monaten schon, in der wahnsinnigen Hoffnung, dass sie die Tat ungeschehen machen könne, auch wenn sie sicherlich wisse, dass sie das niemals erreichen könne.

Die beiden Älteren seufzten gemeinsam, wie es nur Paare vermögen, die einander schon sehr lange kennen. Die ältere Frau sah die jüngere an, wie sie wohl auch ihre eigene Tochter angesehen hätte, wenn sie in ihr einen tiefen Gram erkannte. Leise berichtete sie, während er ihre Hand hielt, wie auch ihr Kind vor seiner Zeit und gewaltsam aus dem Leben geschieden wäre, und dass es nichts auf dieser Welt gäbe, was dieses zurückbringen und die schreckliche Tat verhindern könne. Nichts außer dem Andenken und dem Versprechen sich selbst gegenüber, dass man so weiterlebte, als wäre man noch immer eine gute Mutter und ein guter Vater.

Die jüngere Frau blickte den beiden mit feuchten Augen in die leicht faltigen Gesichter, versuchte den Ansatz eines Lächelns und sagte mit gepresster Stimme, dass sie das immer versucht hätte und sich nun umso mehr darum bemühen würde. Es solle stets so sein, als ob ihr Sohn nach Hause kommen könne und er sich nicht schämen müsse wegen dem, was mit seiner Mutter geschehen sei, als sie diesen Verlust erlitt. Sie drückte dem Mann das Photo des Kindes in die Hand, wünschte dem Paar alles Gute und bedankte sich noch ein letztes Mal von ganzem Herzen.

Sie verließ das freundliche Haus, zog die Tür fest hinter sich zu und machte sich allein auf die Suche nach ihrem Auto, auf die Suche nach dem Weg zurück nach Hause, zurück zu sich selbst.



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