h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Kaugummiflecken.

Ich war im frisch renovierten Altonaer Bahnhof in die S-Bahn Richtung Wedel gestiegen, auf dem Weg zu einem Freund, mit dem ich in Blankenese Kaffee und später vielleicht auch noch etwas Stärkeres trinken wollte. Für gewöhnlich hatte ich so weit in Hamburgs Westen nichts zu suchen, aber mein Freund war vor kurzem dorthin gezogen. Mittlerweile war er in einem Alter, in dem man dort schon eine Wohnung kaufen konnte, ohne sich völlig fehl am Platz zu fühlen.

Im Abteil im vorderen Teil des Zuges setzte ich mich alleine in die hintere Ecke zu den Kaugummiflecken auf den bunten Sitzbezügen und holte meine Morgenpost aus der Tasche. Die ersten zwanzig Seiten mit dem lokalen, politischen und wirtschaftlichen Tagesgeschehen hatte ich schnell überflogen, denn normalerweise interessierte mich hauptsächlich der Sportteil. Wie immer verlief die Bundesligasaison äußerst unbefriedigend für meinen Verein, doch das sollte mich nicht davon abhalten, zum einen guten Fußball unabhängig von Vereinszugehörigkeit zu genießen und mich zum anderen über die Entwicklungen in anderen Clubs zu informieren. Deshalb verfolgte ich auch gewissenhaft die Krankmeldungen aus den gegnerischen Mannschaften, vielleicht verhalf der eine oder andere Spielerausfall meinem Team ja zu einem Überraschungserfolg, auch wenn das sicherlich etwas sportliche Fairness vermissen ließ.

An der Haltestelle Bahrenfeld stieg ein älteres Ehepaar aus, das mir gegenüber gesessen hatte und verträumt miteinander gekuschelt hatte. Zumindest hatte ich sie für verheiratet gehalten, als ich sie mit einem halben Auge während des Lesens beobachtet hatte. Aber vielleicht waren sie auch ganz moderne Rentner, beide verwitwet, die sich im Altersheim oder beim Bingo oder im Ohnsorg-Theater kennen gelernt hatten und jetzt die letzten zehn oder auch zwanzig Jahre ihres Lebens ohne Trauschein zusammen verbringen wollten. In jedem Falle hatte ich jetzt alle neun Sitze für mich alleine, streckte meine Beine aus und widmete mich endlich ungestört meiner Zeitung.

Als wir in den Bahnhof Othmarschen einfuhren, las ich gerade von einem möglichen Kreuzbandriss eines Hertha-Stürmers, ein paar Tage bevor wir sie im Olympiastadion zum Gegner haben würden. Das schien ein glücklicher Wink des Schicksals zu sein, in dieser wichtigen Saisonphase und mit dem Angreifer in Höchstform. Die Türen öffneten sich zischend, und im nächsten Moment sprangen zwei mit dunklen Sturmhauben maskierte Männer in das Abteil. Sie zogen kleinkalibrige Pistolen aus ihren blousonartigen Windjacken und der etwas größer gewachsene rief in akzentfreiem Deutsch:

„Hände hoch und keine Zicken. Wir wollen alle Brieftaschen und Geldbörsen bis wir an der nächsten Haltestelle sind. Machen sie schnell, und niemand wird zu Schaden kommen“. Sie stolzierten mit gezogener Waffe in ihren hellhäutigen Händen durch die Sitzreihen. Ich sah mir alles aus meiner Ecke an, wie die anderen Fahrgäste an ihren Gesäßtaschen nestelten und ihre Handtaschen aufklappten, um der Aufforderung nachzukommen. Niemand machte den Eindruck, dass er kurz vor einer Überreaktion in Form eines Nervenzusammenbruches oder eines Anfluges von Heldentum oder auch nur Zivilcourage stand. Niemand sagte etwas. Die Räuber hatten sich klar ausgedrückt und man bemühte sich, sie nicht zu verärgern.

In diesem Falle war es endlich einmal mein Glück, dass ich mal wieder kaum mehr als fünf Euro bei mir hatte, und so fiel es mir auch nicht schwer, mich von meiner gesamten Barschaft zu trennen, mit meiner im Dispo watenden Maestrokarte konnten sie nichts anfangen und Kreditkarten hatte ich mich ohnehin in meinem bisherigen Leben noch nicht würdig erwiesen. Das machte aber auch nichts, und den Kaffee und das Bier und den Grappa oder Whisky auf den Schreck würde mir mein Freund schon ausgeben. Als ich an der Reihe war, zeigte ich dem maskierten Gangster mein geöffnetes, bis auf den einen Schein leeres Portemonnaie, zuckte unschuldig mit den Schultern und er schien mir meine Zahlungsunfähigkeit abzunehmen. Entweder sah ich wirklich so unvermögend aus, oder die Barschaft der übrigen Passagiere versprach auch ohne mich eine reichliche Beute.

Nach drei Minuten war alles vorbei und die Männer sprangen mit einem mit Portemonnaies und Bargeld gefüllten Tatonka-Rucksack in Klein Flottbek aus dem Waggon und hasteten den Bahnsteig entlang Richtung Ausgang, während sich die Bahn wieder in Bewegung setzte. Wenige Augenblicke später erwachten alle Opfer um mich herum aus ihrer Lethargie und griffen zu ihren Mobiltelefonen, um alle gleichzeitig die Polizei zu alarmieren, dass im schönen Flottbek zwei gemeingefährliche Räuber mit Tausenden Euro Beute durch die warme Sonntagnachmittagsonne spazierten, vielleicht schon auf dem Weg zu ihrem nächsten Coup.

„Sie wissen schon, wahrscheinlich Ausländer, Osteuropäer dem Akzent nach, äußerst brutal und skrupellos und Furcht einflößend. Sie haben gedroht, uns umzubringen, wenn wir nicht tun, was sie uns sagen. Ja, die sind in Othmarschen eingestiegen, oder war’s in Bahrenfeld? Ach ich weiß nicht genau. Sie sind auf jeden Fall in der nächsten, Klein Flottbek, wieder raus, gerade eben, wir sind froh, dass wir noch am Leben und unbeschadet sind.“

Aus einer anderen Ecke hörte ich, „Fünfzehn Opfer ungefähr, vielleicht einer mehr. Keiner ist sonst ausgestiegen, das wäre ja auch ver-suchter Selbstmord, nicht wahr, Herr Komissar?“ Wie viele Notrufe konnte die Polizei wohl gleichzeitig annehmen, und wo würden sie wohl eine Zeugenbefragung durchführen wollen, fragte ich mich. Sie konnten ja kaum die Bahn in GSG9- oder Akte-X-Manier anhalten und stürmen, nur damit ja kein Zeuge sich der Aussage entziehen konnte. Vermutlich würde über die Presse ein Aufruf erfolgen, und sicherlich würden auch Bilder der Überwachungskameras zu Hilfe gezogen werden. Das sollte eigentlich zur Aufklärung des Falles reichen, dachte ich bei mir, ignorierte das aufgeregte Gänseschlagschnattern und Bienenstocksummen im Abteil, atmete ein paar Mal tief durch und widmete mich wieder den Nachrichten über den besagten maladen Hertha-Angreifer und überlegte, ob es uns nun helfen würde oder nur von anderen gefährlichen Spielern ablenken würde.

Ich schaute kurz aus dem Fenster und sah die Baumwipfel und Einfamilienhäuser zu unserer Bahn hinaufblicken, als wir ausgeraubt gen Westen an ihnen vorbeihuschten. Ob man die Täter schnappen konnte, wusste ich natürlich nicht. Auf einen Grappa in Blankenese freute ich mich dennoch schon gehörig.



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