h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Kinsey für Arme.

Sie fuhr mich mit dem Fahrrad fast über den Haufen, als sie rechts in die Kleine Auguststraße abbiegen wollte, doch ich konnte mit einem Ausfallschritt noch schlimmeres vermeiden.
„Passen sie doch auf, wo sie langgehen“, fauchte sie mich böse an, während sie mühsam und schließlich vergeblich versuchte, das Gleichgewicht auf dem Rad zu halten.
„Entspann dich gefälligst. Du musst doch wohl eher aufpassen mit deinem Scheißrad.“ Ich wischte mir demonstrativ nicht vorhandenen Dreck von den Knien. „Wenn ich dein unentspanntes Gesicht so sehe glaube ich, dass du mal wieder ordentlich durchgefickt werden musst“, entgegnete ich, „das relaxt ungemein“, ergänzte ich und setzte mich wieder in Bewegung. Sie hatte zwar gerade eben die Balance wiedererlangt, konnte aber noch nicht wieder auf ihr Rad steigen und fuhr mich an, verbal in diesem Falle.
„Was war das gerade?“
„Ich stellte soeben die Möglichkeit in den Raum, der hier diese offene Straße umschreibt, dass du deine sexuelle Unausgeglichenheit in unbegründete Aggression gegen unbescholtene Passanten umwandelst.“

Sie hielt das Fahrrad am Lenker fest, und ihre grauen Augen fokussierten mich. Ich sah in eine andere Richtung, während sie sich durch Bauchatmung und angedeutete Tai Chi-Bewegungen beruhigte.
„Ach so. Erstens: Seit wann duzen wir uns? Zweitens: Das geht sie nichts an und drittens: Mein Lover hat mir letzte Nacht drei Orgasmen verschafft.“
„Und viertens bist du deshalb noch etwas weich in den Knien und vor allem im Kopf und hast deshalb nicht aufgepasst, als du eben abgebogen bist. Macht nichts, kein Problem, mir ist ja nichts passiert. Wie sieht's aus, vertragen wir uns und gehen wir einen Chai Latte oder einen Yogi Tee oder wenn du willst auch einen deutschen Filterkaffee trinken?“
„Sorry, aber selbst wenn sie nicht so sexistisch und neunmalklug daherkommen würden, ich hab keine Zeit, und für sowas schon gar nicht.“
„So, du bist also auf dem Weg zu einem so genannten Biomarkt, LPG zum Beispiel, politisch korrekte Produkte aus Argentinien und Chile und China zum doppelten Preis kaufen, und danach zur Mittagsschicht in den Kindergarten?“

Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, dann musste sie plötzlich tatsächlich lächeln. Sie nestelte am Riemen ihres Leinenrucksacks, um ihn in eine bequemere Position zu rücken.
„Ich glaube, eine halbe Stunde kann ich entbehren. Ich kenn' da einen guten und günstigen Laden, nur zwei Ecken weiter.“
„Dahin will ich dir doch gerne folgen.“

Sie schob ihr Rad neben mir her, als wir der Linienstraße bis zum Koppenplatz folgten. Vor einem der Cafés schloss sie ihr Gefährt an einem blauen Nil-Fahrradständer an, wir gingen hinein und setzten uns an einen Tisch am Fenster.
Die kurzhaarige Bedienung mit reichlich Piercings in Nase und Unterlippe kam hinter der Theke hervor. Sie wirkte ziemlich verkatert und nahm deutlich unenthusiastisch unsere Bestellung entgegen.
„Ich nehme einen großen Becher Kräutertee mit extra Honig“, orderte meine neue Bekanntschaft, deren Namen ich noch nicht einmal kannte.
„Und ich nehme einen doppelten Espresso. Das könnte dir auch gut tun“, sagte ich mit Blick auf die Ringe unter den Augen der Bedienung. Kommentarlos drehte die sich um und verschwand hinter dem Tresen.

„Sind sie eigentlich immer so direkt?“
„Ach nö, das würde ich so nicht sagen. Berlin macht mich manchmal so. Das muss die Luft hier sein, und dann geht es eben mit mir durch. Wie wär's übrigens, wenn wir doch auf das Du umschwenken würden? Ich bin Silvio.“
Sie musste schmunzeln und griff in die Klischeekiste.
„Na wenn du man nicht aus dem Osten kommst. Aber gut, einverstanden. Ich bin Carmen.“ Dann riss sie eine Schachtel Filterzigaretten auf und steckte sich eine in den Mundwinkel.

„Ich hab leider kein Feuerzeug bei mir, deshalb muss meine Höflichkeit für einen Moment aussetzen“, verstand ich meine Rolle als aktiver Part, dem in diesem Falle die Hände gebunden waren.
„Schon in Ordnung, ich bin Selbstversorgerin.“ Ihr Feuerzeug war von einem bunten wollenen Schutzüberzug umhüllt.
„Selbst gestrickt?“ Ich zeigte auf das wollene Etwas.
Carmen nahm einen tiefen Zug und musste husten, nickte aber dabei.
„Das kommt davon, wenn man seine Kippen bei den Vietnamesen am Hermannplatz kauft“, kommentierte ich lakonisch ihren Hustenanfall.

Einige Züge lang herrschte Schweigen, während sie auf ihren Rucksack blickte und ich der Bedienung bei der Zubereitung des Espressos zusah. Als er fertig war, kam das Piercingwesen mit unseren Heißgetränken und stellte sie sorgfältig vor uns auf den Tisch. Wir bedankten uns höflich, sie verzog sich wieder in ihre Ecke und nippte an einem Becher mit Ampelmännchenmotiv.
„Wat meenste denn eigentlich damit, die Berliner Luft macht dich so. Du bist nicht von hier, wa?“ Sie bemühte sich, originalberlinerisch zu wirken, aber sie konnte mir da nichts vorspielen, sie kam mindestens aus Karl-Marx-Stadt, wenn nicht sogar aus Plauen.
„Nein, ich komm ursprünglich aus Quedlinburg. Da ist alles so putzelig, heimelig und voller kleiner Gässchen und Fachwerkdenkmäler, gegen die man sich besser nicht lehnt, weil sonst alles in sich zusammenfällt. Dagegen macht mich das Flair einer Weltstadt mit seinen breiten Straßen und Angeberbauwerken immer ganz wuschig. Aber so ganz genau psychologisch durchleuchtet kann ich dir das auch nicht erklären.“

Bevor ich zu weiteren Erklärungsversuchen ansetzen konnte, klingelte ihr Mobiltelefon, und sie holte aus ihrem Rucksack ein weiteres kleines Strickkunstwerk hervor.
„Sorry, ich geh mal eben raus.“
„Das muss doch nicht sein.“
Sie erhob sich dennoch und ging vor die Tür, wo ich sie durch die Glasfront in ein kurzes, offensichtlich emotionales Gespräch verwickelt sah. Ihre Haare schienen zu Berge zu stehen, als sie zurück zu mir an den Tisch kam und das Telefon wieder in das Wollkondom steckte. Wortlos setzte sie sich und nahm einen Schluck Tee.
„Ist etwas passiert, wenn ich das so fragen darf?“
Carmen seufzte und nahm sich eine Zigarette, die ich ihr immerhin mit ihrem eigenen Feuerzeug anzündete.

„Wie man's nimmt. War nur gerade wieder eine Absage einer Bewerbung. Es ist ja nicht so, dass es im Bildungsbereich in Berlin momentan Engpässe geben würde, aber irgendwie falle ich doch immer wieder durch das Raster. Ganz schön frustrierend.“
„Solange im Bett noch alles in Ordnung ist“, warf ich aufmunternd ein, nachdem ich einen Schluck Espresso getrunken hatte. Aus eisgrauen Augen sah sie mich mit einer Mischung aus Zorn und Angst an.
„Ist es leider doch nicht. Mein letzter guter Sex ist schon eine ganze Weile her, zumindest bei dem ein Mann eine aktive Rolle gespielt hätte.“

Der Espresso schmeckte cremig und kräftig.
„Aber jetzt erwarte nicht, dass ich dich zu meinem sexuellen Erlöser bestimmen werde.“
„Ich glaube ohnehin nicht, das Sex notwendigerweise die Erlösung ist.“
Schweigend nippten wir an Kräutertee und Espresso.
„Sex kann ziemlich frustrierend sein, vor allem als Frau.“
„Das kann durchaus auch Männern passieren. Aber er kann beizeiten verdammt viel Spaß machen.“
Carmen seufzte geradezu inbrünstig in ihren Becher und Dampfschwaden stiegen aus der Tasse auf.

„Davon habe ich auch schon gehört.“
Obwohl es nicht eben angebracht war, musste ich breit lächeln.
„Tut mir leid, ich weiß, dass es sich nicht gehört, aber eine Frau mit deinem Aussehen muss doch wohl nicht im von Rosen umwucherten Schloss auf den Märchenprinzen warten, der sich mit flammendem Schwanz, ich meine natürlich Schwert, den Weg zu dir bahnen muss. Geh einfach mal los, sei nicht zu verkniffen, und mach mal einen Kerl an. Die Typen stehen drauf, erobert zu werden. Dass der Mann immer den ersten Schritt machen muss ist völliger Schwachsinn. Das schmeichelt dem männlichen Ego ungemein, wenn die Frau den erfolgreich durchgeführten Beischlaf initiiert.“

Ich nahm noch einen Schluck Espresso und ließ die Crema in den Mund tröpfeln, dann leckte ich mir die Lippen.
„So, und bei dir soll ich meinen Beutezug wohl starten?“
Carmen rührte ein bisschen in ihrem honigsüßen Kräutertee herum, dann blies sie vorsichtig über die Oberfläche, obwohl er eigentlich schon kühl genug sein musste. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.
„Lecker.“

Ich musterte sie schmunzelnd, betrachtete die feinen Fältchen um die Augen, ihre braunen Locken in der Stirn und ihre kleinen runden Brüste, die sich unter ihrem braunmelierten Pullover abzeichneten.
„Ich hätte nichts dagegen, muss ich ehrlich sagen.“
„Und, kannst du mir auch geben, was du so vollmundig anpreist?“
„Nun, das musst du wohl schon selber herausfinden“, erwiderte ich, noch immer mit einem leichten Schmunzeln um die Mundwinkel. „Dir ist ja bekannt, dass es nicht bei jedem Mal das ultimative Orgasmusrauschen sein kann. Aber die Wahrscheinlichkeit, nur auf Rein-Raus-Spritz-Ab-Luschen zu treffen, ist wohl doch nicht so groß, wie von weiblicher Seite allgemein befürchtet und in feministischen Kreisen gerne propagiert wird.“

Carmen wischte die Fettspuren, die ihr Labello am Rand der Teetasse hinterlassen hatte, fort. Sie hatte vergessen, dass sie eine Zigarette in der Hand hatte und zündete sie erneut an.

„Ich kann dir leider nicht versprechen, dass ich umgehend mit meiner sexuellen Läuterung und der daraus resultierenden Eroberungsphase beginnen werde.“
Mit dem Zeigefinger wischte ich die letzte Crema aus der Espressotasse und leckte sie ab.
„Macht überhaupt nichts.“
Ich blickte ihr noch einmal ungeniert auf die Brüste.
„Obwohl es natürlich schade ist, aber da kann ich wohl nichts machen. Und wer weiß, vielleicht verpasst du ja wirklich nichts.“

Ich stand auf, und die Gepiercte kam auf ein Handzeichen zu uns.
„Das zahl ich zusammen.“ Ich legte zehn Euro auf den Tisch. „Stimmt so“, fügte ich betont gönnerhaft hinzu. Dann zog ich meine Jacke über. „Ich muss weiter. Viel Glück bei allem, Männer, Job und so weiter. Ich bin überzeugt, dass du da was reißen kannst.“
„Danke“, erwiderte sie und sah nun beinahe traurig aus. „Schön, dich getroffen zu haben.“
„Ganz meinerseits. Und wenn du es dir das nächste Mal selbst besorgst, denk doch an mich.“

Sie wollte eben einen Sturm der Entrüstung entfesseln, wenn auch nur in dem Wasserglas, das meinen Espresso stilecht begleitet hatte. Aber sogleich lächelte sie mich an.
„Ich überleg' es mir.“



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