h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Tee vom anderen Ufer der Elbe.

Es war einer dieser langen, harten und vor allem kalten Winter. So kalt, dass die Brieftauben Gefahrenzulage verlangen konnten. So kalt, dass die Spatzen auf den Dächern das Pfeifen einstellten. So kalt, dass man am liebsten drei Paar Socken anziehen wollte, damit die Zehen nicht abfroren. So kalt, dass man beinahe auf Stelzen durch den Schnee marschieren wollte – zumindest wenn man keine drei Paar Socken anziehen wollte. Es war sogar so kalt, dass man an manchen Stellen zu Fuß die Elbe überqueren konnte. Natürlich nicht gerade an den breiten Stellen nahe Blankenese, aber zumindest die Marschlande erfreuten sich regen Fußgängerverkehrs, so wie sie es bisher nicht gekannt hatten. Solch niedrige Temperaturen hatte es seit ewigen Zeiten nicht gegeben, und selbst kaum eine Großmutter konnte sich daran erinnern, dass man sich auf halbem Wege zwischen Drage und Altengamme auf dem Fluss treffen konnte.

Martha saß, tief in Mantel, Schal, Mütze und Handschuhe eingepackt, vor dem gerade angeheizten Ofen und betrachtete verträumt die Eisblumen am Fenster. Im Sommer züchtete ihr Vater Nelken, Tulpen, Narzissen und andere Blumen für fremde Käufer, aber die filigranen weißen Kunstwerke der Natur an den Fensterscheiben faszinierten sie in diesen Momenten mehr als jedes Blütenblatt einer Rose.

Ihr Vater schichtete noch einmal die Holzscheite sorgsam aufeinander und lächelte sie dann an. Sie lächelte zurück, während er sich den imaginären Schweiß von der Stirn wischte. Er ging zu dem Wassereimer, den er vor der Kälte retten konnte, füllte etwas davon in einen Kessel und stellte diesen auf den Ofen. Dann nahm er einige Blätter von den kostbaren Tee, den Martha von einem Händler von der anderen Elbseite erstanden hatte und legte sie sorgsam in eine weitere Kanne.

Seine Gedanken wanderten zu seiner Frau, deren Name ebenfalls Martha gewesen war. Sie war sehr jung gestorben, nur wenige Jahre nachdem sie geheiratet und ihre einzige Tochter bekommen hatten. Es war eine schwierige Geburt, und er hatte die ganze Nacht an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten, bis es endlich früh morgens so weit war, und sie beide die Tochter begrüßen konnten. Aber es schien so, als ob mit der Ankunft der neuen Martha die alte mit einem letzten Geschenk ihren Abschied nehmen wollte, denn sie kam nie aus dem Wochenbett hinaus, und nur zwei Wochen nach der Geburt starb sie.

Das war nun vierzehn Jahre her, und die ganze Zeit hatte er versucht, für das Mädchen beide Elternteile zu sein – verantwortungsbewusst wie er war blieb ihm auch keine andere Wahl. Er musste schließlich für ihre Schulmittel aufkommen, er musste dafür sorgen, dass ihre Kleidung sauber war, und das Essen musste rechtzeitig auf dem Tisch stehen. Er hatte nie wieder eine Frau gefunden, die diese Dinge für ihn tun konnte.

Er hob den nun pfeifenden Kessel vom Ofen und goss den Tee auf. Mittlerweile war das Zimmer etwas aufgeheizt, und Martha zog ihre Handschuhe aus. Das Zimmer war erfüllt von dem Duft des frischen Tees, und ihre Augen glänzten erwartungsvoll.

„Wie war das eigentlich, als meine Mutter starb“, fragte Martha. „Hatte ich eigentlich einen ande-ren Namen, oder war ich schon immer Martha Nummer Zwei?“

„Nein“, sagte ihr Vater, und sah erst sie an, dann aus dem mit wundervollen Eisblumen geschmückten Fenster auf den eingeschneiten Apfelbaum, auf dem noch ein einsames Blatt hing, wie ein letztes Symbol dafür, dass es zu spät war, um die Lüge aufrecht zu erhalten.

„Du warst eigentlich überhaupt nicht geplant. Und dein Name ist wirklich nur daraus entstanden, dass ich voller Verzweiflung nach dem Tod deiner Mutter nach dem gesucht hatte, was mir am liebsten war“.
„Das verstehe ich“, sagte Martha nach kurzem Grübeln, wobei sie ihr Kinngrübchen massierte, und küsste Ihren Vater auf die Stirn.
„Ich habe dir aber auch etwas zu erzählen.“
„Sag es mir“, meinte ihr Vater, nachdem er die Teeblätter entfernt hatte, „wir wollen doch jetzt alles teilen und kein Geheimnis mehr voreinander haben“. Er pustete auf seinen Becher, bis der Tee eine trinkbare Temperatur erreicht hatte.

„Dieses Getränk schmeckt aber auch so gut, dass man es zum Abendmahl ausschenken könnte.“
„Ich habe heute das erste Mal einen Jungen geküsst“, begann Martha.
Er spuckte beinahe den Tee wieder aus und verschluckte sich dabei.
„Und“, fragte er, nachdem er wieder zu Luft gekommen war, „hat es dir gefallen?“
„Ich denke schon“, erwiderte sie, „ich weiß ja nicht, wie es sich anfühlen sollte.“
„Nun ja“, erwiderte er, „es sollte sich so anfühlen, als ob es dorthin gehört“.
„Das hat es“, antwortete sie.
„Und darf ich auch erfahren, wer der Junge war?“, fuhr der Vater fort, nachdem er einen weiteren Schluck von dem Tee genommen hatte.

„Ach, es war einer von den Jungen vom Markt drüben in der Marsch“ erwiderte sie.
„Ich hatte das Tee-Gewächs bei ihm gekauft, und er hatte mich so nett bedient, und mich dann in ein Gespräch verwickelt. Er war so höflich, dass ich ihm nicht einen Wunsch abschlagen konnte. Und dann hat er mich geküsst“, seufzte sie.
„Ist das eigentlich immer so schön, wenn man geküsst wird?“
„Wenn man damit einverstanden ist, sollte es das sein“, antwortete Marthas Vater, und sah wieder aus dem vereisten Fenster. Etwas hatte sich verändert; und auf den zweiten Blick fiel es ihm auf: Der Apfelbaum hatte sein letztes Blatt verloren.



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