h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Vom Hof gejagt.

Das übliche Gewimmel am U-Bahnhof Jungfernstieg. Ich stieg, nachdem ich mich durch Bauwagen, Schutt und Absperrgitter gekämpft hatte, in meine Bahn Richtung Niendorf. Dieser Julitag war, wie schon öfter in diesem Sommer, nahezu unerträglich heiß gewesen, und mit meinen fast vor Schweiß glänzenden grün gefärbten Haaren sah ich fast so aus, als hätte ich nicht mitbekommen, dass die Berliner Love-Parade in diesem Jahr nicht stattfinden würde.

Auch im Abteil wäre es ein leichtes gewesen, die Luft in Scheiben zu schneiden, und es verwunderte mich nicht, dass manchen Passagieren vor Müdigkeit schon die Augen zu fielen, andere sogar schon schliefen. Mir gelang es ebenfalls kaum, die Lider oben zu halten, also ließ ich meine Blicke stetig durch die Reihen wandern. Gegenüber von mir saß ein kleines Mädchen, sie mochte sieben oder auch acht Jahre alt sein. Sie war eine der wenigen, die nicht am einschlafen war, und blickte mich mit großen Augen an. Ich lächelte ihr zu, und inspizierte weiter die Umgebung, die leider nicht viel mehr bot als Fenster, an denen Tunnelwände vorbeifuhren. Das konnte mich freilich nicht sehr lange vom Einschlafen abhalten, und so hielt ich ab und an bei dem Mädchen für den Bruchteil einer Sekunde inne, um gleich darauf weiterzuschweifen.

Ob sie mich nun die ganze Zeit beobachtet hatte, oder es Zufall war, das unsere Blicke sich jedes Mal trafen, weiß ich nicht, aber nach einigen langgezogenen Minuten Fahrtzeit starrten mich plötzlich zwei Augenpaare von der gegenüberliegenden Seite an. Das eine gehörte dem Mädchen, das andere ihrer Mutter, die neben ihr saß und mir nur dadurch aufgefallen war, dass sie von Zeit zu Zeit bemüht war, ihren Kopf nicht auf die Brust sinken zu lassen. Nun aber war sie hellwach, und fixierte mich unverhohlen. Ich erwiderte kurz den Blickkontakt, setzte aber das ziellose Wandern fort.

Doch ich merkte, dass sie mich nicht wieder aus den Augen ließ, und ich hatte mich nicht getäuscht, denn als mein Rundgang wieder bei ihr und ihrer Tochter vorbei kam, war die Situation unverändert. Deshalb nahm ich sie meinerseits ins Visier. Nach ausgedehnten Sekundenbruchteilen keifte sie mich beinahe an.

„Was starren sie meine Tochter so an?“
„Hä? Bitte was?“
Das Mädchen sah mich weiter aus dem, was man wohl Kulleraugen nennen mochte, an, auch jetzt konnte ich keinen Anflug von Angst erahnen.
„Sie starren schon seit Minuten meine Tochter an. Wieso?“
„Wer starrt hier wen an?“, erwiderte ich, und deutete mit dem Kopf in Richtung des Mädchens. „Ich hab gesehen, wie sie, seit sie eingestiegen sind, dauernd meine Tochter ansehen, und mir gefällt gar nicht, wie sie das tun“.

Ich zuckte mit den Achseln.
„Und ich hab bis eben nur gesehen, wie sie halb geschlafen haben und versucht, nicht vom Sitz zu rutschen.“
„Das hätte ihnen nur auffallen können, wenn sie meine Tochter angegafft hätten. Was wollen sie von ihr?“
„Ich hab ihre Tochter nicht angegafft. Die sitzt mir gegenüber und ist nun mal nicht durchsichtig. Da kann ich doch nichts für.“
„Dann haben sie sie also doch angestarrt. Sie geben das also zu. Sind sie etwa einer von denen, die...“
„Sie sind nicht zufällig ein bisschen paranoid, was?“
„Was? Was bin ich? Wollen sie mich beleidigen?“
„Nein. Ich hab bloß eine Vermutung geäußert.“

Inzwischen waren unsere Abteilnachbarn durch die Lautstärke unseres Gespräches aufgewacht und wollten von der Mutter erfahren, was denn vorgefallen sei.
„Der da“, keifte sie und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich.
„Der da hat meine Tochter die ganze Zeit angestarrt, als ob er sie mit nach Hause nehmen will, und...“
„Das ist Blödsinn“, entgegnete ich ruhig.
„Sie sitzt mir bloß gegenüber, und...“
„Na was für ein Zufall, wir saßen aber zuerst hier. Sie haben sich genau dort hingesetzt.“
„Ja, weil der Platz als erstes frei wurde.“
„Das kam ihnen wohl sehr gelegen, was?“
„Stimmt, weil ich ungefähr die letzten drei Stunden nicht gesessen habe.“
„Weil sie nach kleinen Mädchen für diese widerlichen Filme gesucht haben, aber keine gefunden haben!“
Mit einem Mal schaltete sich Volkes Stimme im U-Bahn-Abteil ein.
„Genau!“
„Sie sind doch so einer...“
„Sie werden bald noch viel länger sitzen können...“

Die anderen Passagiere waren offensichtlich nicht gerade auf meiner Seite. Das Mädchen hingegen hielt sich zwar am Arm ihrer Mutter fest, ließ mich aber dennoch noch immer nicht aus den Augen.
„Holy Shit, was wird mir hier eigentlich vorgeworfen? Könnte ich das eventuell mal konkret erfahren?“
„Das wissen sie ja wohl ganz genau!“, giftete mich die Mutter an.
„Nein“, erwiderte ich, und blickte in die Runde der mir feindselig zugewandten Augenpaare.
„Nicht die blasseste eine Ahnung.“, und ich zuckte fassungslos mit den Achseln.
„Sie haben die ganze Fahrt über mein Kind angestarrt, und überlegt, wie man sie am besten entführen und für Kinderpornos missbrauchen kann.“

Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Die Hitze hatte mein Reaktionsvermögen ziemlich eingeschmolzen.
„Ah ja. Klar. Woran haben sie das bloß erkannt. Habe ich vergessen, mein Schild „Kinderpornoproduzent“ von der Stirn zu nehmen? Wie dumm von mir.“
„Sehr witzig. Ihnen wird das schmutzige Lachen schon noch vergehen.“
„Ach was. Hab ich irgendwas gemacht, was ihre wilde Theorie auch nur annähernd bestätigen könnte?“
„Ja, sie haben die ganze Zeit...“
„... ihre Tochter angestarrt. Das habe ich schon mal gehört. Und selbst wenn es so gewesen wäre?“
„Aber so machen das doch alle Kinderschänder. Vor Grundschulen und Kindergärten herumlungern. Durch Blickkontakt eine Bindung zum Kind aufbauen, Vertrauen schaffen, dann das Opfer genauer untersuchen...“

Ich beobachtete sie genau, wie sie mit ihren zittrigen Händen großflächig gestikulierte.
„Woher wissen sie das denn so genau?“, unterbrach ich sie.
„Na ja, das steht doch gerade in jeder Zeitung. Das weiß doch jeder.“
„Also, in den Zeitungen, die ich lese, steht so was nicht.“
„Da sehen sie, dann ist es doch klar, sie wissen es so, dann sind sie so einer...“

Die Logik darin wollte sich mir nicht so ganz erschließen. Langsam, aber sicher, ging mir die Geduld aus. Außerdem musste ich die nächste Station raus.
„Moment, wenn ich sie in ihren Ausführungen mal kurz unterbrechen darf, ich hab da eine Idee“, wandte ich ein.

Die Mutter hielt inne und holte tief Luft.
„Warum fragen wir nicht einfach die Betroffene, ihre Tochter, ob ich sie überhaupt angestarrt habe?“

Die Mutter musterte mich einen Moment feindselig wie schon die ganze Zeit über, dann schien ihr ein Licht aufzugehen.
„Gut. Martina, hat dich der Mann da drüben die ganze Fahrt lang angeschaut? Sag die Wahrheit!“
„Mm - Mh.“

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihren Blick von mir zu nehmen.
„Na siehst du“, sagte ich aufmunternd.
„Und wieso guckst du mich jetzt die ganze Zeit an?“

Sie kaute ein bisschen auf ihren Fingernägeln, dann begann sie zaghaft zu lächeln.
„Wieso hast du denn so grüne Haare?“

Die Insassen blickten sie und meine Haare pikiert an, während ich lachend aufstand.
„Damit die Vögel sich freuen“, erwiderte ich und beeilte mich, damit ich gerade noch rechtzeitig aus der Bahn springen konnte. Als der Zug anfuhr, zog das Fenster mit dem Mädchen an mir vorbei und sie winkte mir zu, während die anderen Fahrgäste mit gesenkten Köpfen dasaßen, als wollten sie ihre verlorene Zeitung auf dem Boden suchen. Ich winkte zurück und steckte mir, immer noch lachend, einen Bonbon in den Mund.



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