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Wattwanderung.

Man sollte annehmen, dass es für einen Fremden schwierig sein müsste, sich in einen Bewohner der Insel Neuwerk zu verlieben. Bei offiziell gezählten 39 Insulanern ist die Wahrscheinlichkeit den Richtigen zu treffen relativ gering. Einmal davon abgesehen, kann man bei einem achtstündigen Aufenthalt ja noch nicht einmal annähernd sicher sein, dass es überhaupt der Richtige ist.

Neuwerk ist zwar eine Insel, aber da sie zur Stadt Hamburg gehört, erscheint es nur logisch, dass sie nicht nur mit dem Schiff, sondern auch zu Fuß erreichbar ist. Wenn Ebbe herrscht, versteht sich, und man kann auch nicht einfach in Blankenese in die Elbe steigen und losmarschieren, sondern muss sich schon nach Cuxhaven begeben und sich bei Sahlenburg oder Duhnen ins Watt wagen. Auch zum Tarifbereich des Hamburger Verkehrsverbundes gehört sie nicht.

Einstmals war diese Insel der erste Wehrpunkt gegen Seeräuber, die der Stadt Hamburg an den Geldbeutel wollten. Deshalb wurde auch schon vor gut siebenhundert Jahren ein Wachturm erbaut, um das Seegesindel fernzuhalten. Das hat natürlich nur bedingt Wirkung gezeigt, schließlich ließ sich der Möwenschiss von Insel ziemlich leicht umschiffen, und das wilde Volk segelte die Elbe weiter stromaufwärts gen Hamburg, aber der ein oder andere Seeräuber ist wohl doch dort gestrandet. Ob er dort den gewünschten Reichtum gefunden hat, sei einmal dahingestellt, aber vielleicht wartete am Strand ja die Frau seiner Träume.

1925 wohnten auf der Insel 29 Männer und 35 Frauen, zusätzlich hatten 8 Männer und 41 Frauen dort ihren zwischenzeitlichen Wohnsitz. Ob diese Zahl das größte Bordell außerhalb der Reeperbahn darstellte, wage ich zu bezweifeln, aber es ist auch nicht einmal belegt, was diese überdurchschnittlich hohe Zahl an Frauen dort umtrieb. Es ist also nicht auszuschließen, dass die Mehrzahl dieser Frauen Prostituierte waren. In Jahre 1925 starben in Hamburg, nebenbei bemerkt, übrigens 386 Menschen an den Folgen von Geschlechtskrankheiten, von denen nicht wenige sicherlich im Bordell aufgeschnappt wurden. Andererseits machte es auch nicht sehr viel Sinn, den langen Weg von Hamburg hinaus nach Neuwerk zu bestreiten, wenn die sündige Meile direkt am heimischen Hafen lag.

Aber ich war von all diesen nutzlosen statistischen Daten und Spekulationen unbeleckt, als ich eher zufällig auf die Idee kam, einmal den westlichsten Ausläufer Hamburgs zu besuchen. Im Rahmen eines verzweifelten Fluchtversuches aus meinem Elternhaus lief mir eine Idee von Inseln, die sowohl nah als auch emotional fern lagen, über den Weg. Ich hatte besonders die Vogelinsel Scharhörn im Sinn, denn ich hatte einerseits den Tatort auf Neuwerk gesehen, und zum anderen hatte ich ja zugegebenermaßen auch einen kleinen Vogel.

Entgegen der Empfehlungen war ich barfuß durch das Watt gewatet, und glücklicherweise schnitten mir keine Muscheln und Krebse die Füße auf. Aber selbst diese Befürchtung hatte mich nicht davon abgehalten, das Gefühl des schlickigen Untergrundes zwischen meinen Zehen auf ganzer Strecke zu genießen.

Man sollte meinen, man sei ganz allein auf dieser Welt, wenn man so einsam seine Spuren im Watt hinterlässt. Immerhin hatten freundliche Cuxhavener Waterkantbewohner mir Hinweise zur richtigen Orientierung geben können, so dass ich nicht völlig hilflos im in alle Himmelsrichtungen gleich aussehenden Watt gestrandet war. Notfalls konnte ich mich ja auch an den in der Entfernung sichtbaren in schöner Regelmäßigkeit in den Boden gegrabenen Reisigbüscheln entlang hangeln. Hauptsächlich am Sonnenstand ausgerichtet konnte ich dann auch tatsächlich alleine und ohne weitere Navigationshilfe die Insel zu Fuß erreichen, auch wenn es gut zwei Stunden gedauert hatte, um in der rechten Spur zur Insel zu marschieren.

An einer unbeobachteten Stelle stieg ich aus dem Meer, trocknete meine schlammigen Füße mit einem danach nicht mehr zu benutzenden Handtuch ab, stieg in meine Schuhe und begann den Landgang. Neuwerk ist ja nicht gerade die größte unter den Nordseeinseln, und so fiel es mir leicht, auch ohne Kompass das Gasthaus „Zum Anker“ zu finden. Nach dem langen Marsch gelüstete es mich nach einem frischen Fischgericht, und so betrat ich das gemütlich anwirkende Restaurant im Inselinneren.

Der Wirt, ein wohlgenährter Seebär in den Sechzigern begrüßte mich und half mir aus Rucksack und Mantel. Dann wies er mir einen Tisch zu, von dem aus ich das flache Binnenland der Insel bewundern konnte, mit all den Vögeln in Bewegung. Er brachte mir die Karte, und ich überflog die überschaubare Auswahl an bodenständiger norddeutscher Festlandsküche wie Labskaus und Grützwurst und ortnahen Schätzen des Meeres. Nachdem ich mich für eine Fischfiletauswahl entschieden hatte, blickte ich mich in der schwummerigen Gaststube um. In der gegenüber liegenden Ecke saß ein älteres Ehepaar schweigend und scheinbar ratlos vor ihren ganzen Fischen, und einige Tische in den Raum hinein eine Gruppe Senioren, die sich schon am hausgemachten Kuchen labten. An einem Einzeltisch in der Ecke saß eine junge blonde Frau und beschäftigte sich mit ihrem Rührei oder Bauernfrühstück. Ich fragte mich, ob sie eine saisonale Angestellte in der Mittagspause oder zumindest die Tochter des Hauses war, denn ich fand es verwunderlich, dass jemand wie sie ganz allein hier auf einer kleinen Insel Urlaub machen sollte, auch wenn das sicherlich eine sehr oberflächliche Sichtweise war.

Der Wirt kam an meinen Tisch, um mir das Besteck und einen Eiergrog als Aperitif zu bringen.

„Entschuldigen sie bitte“, fragte ich den Insulaner, während ich einen schnellen Blick in die Ecke zu der Blonden warf. „Ich weiß, dass es etwas ungehörig ist, aber darf ich sie etwas fragen?“
„Ach wissen sie“, entgegnete er, „ich bin hier so einiges gewöhnt. Wir Neuwerker haben schließlich das Blut so einiger Seeräuber in uns, da ist uns nicht viel Ungehöriges fremd.“

Ich blickte ihn nicht sehr verwundert an, aber seine Antwort hatte mich ein wenig neugierig gemacht. Ich nahm einen Schluck von dem Grog, der sollte ja nicht kalt werden.
„Können sie mir etwas von Seeräubern oder Strandräubern hier auf der Insel erzählen? Bestimmt kennen sie doch von ihren Eltern und Großeltern so manche spannende Geschichte.“
„Na sicher kann ich hier so feines Seemannsgarn spinnen, dass sie ihrer Braut einen Hochzeitsschleier daraus weben könnten, und wer weiß, vielleicht ist ja sogar das ein oder andere Körnchen Wahrheit darin. Aber ich bin nicht ganz auf den Kopf, oder besser gesagt auf die Augen gefallen.“

Ich blickte ertappt auf die grünen Wiesen hinaus und trank den Grog aus.
„Sie wollen wissen, wer die blonde Braut da in der Ecke ist, hab ich recht oder hab ich recht?“
„Ja, stimmt schon. Sie haben schon das eine oder andere Bier hier an den Mann und die Frau gebracht, was?“
„Was meinen sie, wer sie ist?“
„Oh, wenn ich raten müsste, dass würde ich vermuten, dass sie ihre Enkeltochter ist, oder zumindest mit ihnen verwandt ist, hier arbeitet und sich gerade ihr Mittagessen genehmigt.“
„Stimmt fast. Sie ist zwar weder mit mir verwandt, kommt nicht von der Insel, sie arbeitet auch nicht hier in der Kneipe, aber immerhin isst sie hier regelmäßig zu Mittag.“
„Na, das war ja dicht dran. Also, verraten sie mir den Rest?“

In diesem Augenblick kam der Koch, der es wohl gewohnt war, dass der Wirt sich gerne mal im Klönschnack aufhalten ließ und deshalb auch ohne zu klagen das Essen selbst an den Tisch brachte.
„Bitte schön, einmal die Fischfiletplatte mit Salzkartoffeln, in gutem Nordseewasser gekocht. Guten Appetit.“
„Super, vielen Dank“, entgegnete ich. Zum Wirt gewandt, „Nun?“
„Sie ist die Vogelwartin von Scharhörn. Das ist ein noch einsamerer Job als hier im Winter die Schafe zu hüten, müssen sie wissen.“
„Und sie geht jeden Tag die sechs Kilometer zum Essen hierher und dann wieder zurück auf die Vogelinsel?“
„Warum stellen sie ihr eigentlich all diese Fragen? Sie ist ja nicht taub oder stumm, das würde sie beim Vögel beobachten in gewissen Bereichen etwas beeinträchtigen. Und was die Geschichten von Piraten betrifft – die erzähle ich nur dann, wenn ich mir sicher bin, dass sie sich daran am nächsten Morgen nicht mehr erinnern können, dafür sorge ich dann schon.“

Er zwinkerte mir zu, erhob sich und steuerte sein üppiges Hinterteil wieder zur Theke, wo schließlich Arbeit auf ihn wartete, denn es waren wieder Kaffeegäste eingetroffen.

Ich schaute in die Ecke, wo die Vogelwartin gerade mit ihrem Essen fertig geworden war. Auch wenn es mir leid tat, dass mein Fisch wahrscheinlich kalt werden würde, bevor ich dazu kam, ihn zu genießen, musste ich dann doch die Gelegenheit ergreifen, ehe sie sich wieder in die Einsamkeit ihrer Insel zurückzog.

Deshalb beeilte ich mich, aufzustehen und in ihre Ecke zu gehen. Sie faltete ihre Serviette zusammen und blickte dann zu mir auf, als ich an ihren Tisch trat.
„Entschuldigen sie bitte die Störung“, begann ich nervös. „Aber ich möchte sie gerne etwas fragen. Darf ich mich zu ihnen setzten?“

Sie grinste und wies mit ihren blonden Locken zu meinem Tisch am Fenster.
„Aber wäre es denn nicht geschickter, wenn wir deinem Fisch Gesellschaft leisten würden, bevor er sich vollends verkühlt? Dann hättest du noch was von ihm.“
„Okay, gerne, das wäre ja auch schade drum. Auch wenn ich noch nicht probiert habe.“
„Der wird schon schmecken, das wäre das erste Mal, wenn sich hier jemand beschweren würde.“
Wir hatten uns gemeinsam an meinen Platz am Fenster gesetzt, und hungrig nahm ich ein paar Bissen von verschiedenen gebratenen Nordseefischfilets, die hervorragend schmeckten.
„Wie lange bist du hier schon Vogelwartin?“, fragte ich sie, nachdem ich alle Fischarten gekostet hatte. Du siehst mir so aus, als ob du gerade erst Abitur gemacht hast.“

Eine ihrer blonden Locken fiel ihr wie zufällig in die Stirn, und sie machte optisch nicht den Eindruck, als ob sie auch nur mehr als einmal zu Fuß von Scharhörn nach Neuwerk durch das Watt gestiefelt war, geschweige denn in der asketischen Behausung der auf Stelzen gebauten Hütte des Vogelwartes heimisch wäre.
„Gut zwei Jahre. Wenn du es genau wissen möchtest, dann 855 Tage, und damit 1122 Tage nach meinem Abitur. Ich hab damals nach der Schule nach einem Biologiepraktikum gesucht, und da war in den Stellenausschreibungen der Hansestadt so eine Ausschreibung.“

Ich pickte weiterhin die Filetstücken auf meine Gabel, wobei ich sie nicht aus den Augen ließ. Es war sehr praktisch, dass ich mir keinen ganzen Fisch mit all seinen Gräten bestellt hatte.
„Und da habe ich nicht lange gezögert, und bin nach hier übergesetzt. Ach ja, schmeckt es dir eigentlich?“
Ich nickte zufrieden. Frischer gefangen und dichter am Ursprungsort ging es kaum. Und ohne großen Firlefanz zubereitet schmeckt Fisch immer noch am besten.
„Also sitze ich jetzt den größten Teil des Sommers in meiner Ein-Frau-Kabine, höre den Vögeln zu, und beobachte sie, und zähle sie, und nenne sie meine Schwestern. Den Rest des Jahres bin ich zu Hause in Bremen und studiere Umweltwissenschaften und Biogeographie, und warte eigentlich nur darauf, dass ich wieder hier sein kann.“
„Also bist du lieber unter Vögeln bist als irgendwo unter Menschen. Gibt es da nichts, was du vermisst? Gespräche, Wärme, Liebe und all diese alltäglichen Dinge?“
„Ich hab meine Vögel, und die Einsamkeit, und wenn ich möchte, kann ich sofort zurück aufs Festland, zumindest so schnell wie sofort hier umgesetzt werden kann.“

Mit einem Stück Neuwerker Brot wischte ich die Zitronensauce vom Teller. Sie stand auf, und legte ihren Kopf und die Locken in den Nacken.
„Das Vögeln fehlt mir ab und zu“, lachte sie. „zu schade, dass so wenig junge Männer wie du hier aufkreuzen, und ich jetzt los muss, bevor die Flut vollends den Weg nach Scharhörn auffrisst.“
Sie stand auf, griff nach ihrer Regenbekleidung, die mir bis dahin nicht aufgefallen war und warf sie sich über die Schulter.

„Auf Wiedersehen, vielleicht, hab noch einen schönen Aufenthalt hier.“
„Viel Spaß beim oder bei den Vögeln“, entgegnete ich, nicht unbeeindruckt.
Sie winkte mir zu, stieg die Stufen hinauf, und mir fiel ein, dass ich ja genauso von der Tide abhängig war, wenn ich noch heute Cuxhaven kommen wollte.

Ich überlegte noch, ob es wert war, sich vom Wirt abfüllen zu lassen und Seeräubergeschichten anzuhören, aber das wollte ich mir für einen anderen, ruhigeren Aufenthalt aufsparen.


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