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Halbleere Dosen Tennants.

XI/8/95

So, es gibt also doch noch die vielbesungene Tradition, dass in den irischen Pubs abends einfach so gesungen und musiziert wird. Ich trudelte also unvermittelt in eine solche Performance, und aus dem letzten pint o’guinness, die ich vor meiner Rückkehr in mein von zwei Irinnen aus Tipperary (das stellte ich heute morgen beim Frühstück fest) und zwei Französinnen (das erfuhr ich aus dem Schulausweis, der auf ihrem Bett lag) mitbewohnten Zimmer trinken wollte, wurden dann noch drei oder vier oder so. Die Musik variierte von instrumentalen Ziehharmonikaversionen irischer Folksongs über Mundharmonikasolos bis hin zu unbegleitet vorgetragenen Balladen. Der Sänger, ein etwa 60 jähriger Postangestellter (das Post-Hemd hatte er nach der Arbeit gar nicht erst ausgezogen), der ab und zu auch das Schifferklavier bediente, konnte zwar kaum noch rechen, aber der Gesang wurde stets überzeugend vorgetragen. Der Mundharmonikaspieler, der neben mir saß, war etwa gleichaltrig, mit grauem Bart geschmückt, und ließ keine Gelegenheit aus, irgendwelche Slip-of-the-tongues des Sängers vorzutragen, applaudierte aber wie alle anderen auch nach jedem gelungenen Lied, und das waren fast alle. Wenn ihm danach war, begleitete er den Postbarden ein paar Takte auf der Mundharmonika, wenn die Lust vergangen war, hörte er einfach wieder auf und widmete sich seiner den halben Abend füllenden Beschäftigung, eine 0,5 Liter Dose Lager zu bestellen, ein 0,2 Literglas damit zu füllen, dieses gemütlich auszutrinken, um dann die nächste Dose Tennants zu ordern. Irgendwann wurde es dann aber der Landlady zuviel und sie wies ihn darauf hin, dass er doch noch 4 halbvolle Dosen vor sich stehen habe, und er diese doch erst einmal leeren solle. Widerspruchslos machte er sich daran, die andere Hälfte des Abends herumzukriegen. Drei Stühle weiter links saß der dritte, allerdings nur potentielle, Musiker, denn er begnügte sich damit, ab und zu seine Tin whistle in die Hand zu nehmen, mit erinnerungsgefüllten Augen hin und her zu wiegen, und den Sänger, den er nach eigenen Angaben seit über dreißig Jahren kennt, zu einem Lied zu motivieren. Die Landlady freute sich königlich über die Musiker, die allem Anschein nach nicht das erste Mal in diesem Pub ein Ständchen brachten, und begleitete zwei oder drei Lieder auf einer Trommel, die in der linken Hand gehalten und mit einem zweiendigen Klöppel in der rechten geschlagen wird. In dieser Kunst war sie sehr bewandert, was sich herausstellte, als sie das Instrument einem jungen Franzosen reichte, der damit überhaupt nichts anfangen konnte. Als er und sein Freund dann allerdings von den anwesenden Musikern zum singen eines französischen Volksliedes aufgefordert wurden, konnten sie sich doch zu einer Kanonversion, wenn man mit zwei Sängern von einem Kanon sprechen kann, von „Frère Jaque“, welches den Iren nicht bekannt war, doch immerhin konnte ich Mundharmonika die tiefe Aussage des Textes nahe bringen, soweit reichte mein französisch gerade noch. Die härtere Probe folgte bald darauf, als sich der eine der französischen Barden zu mir gesellte und ein wildes Kauderwelsch aus englisch, französisch und ein wenig deutsch begann, unterstützt durch lebhafte Gestik und Mimik und besagte paar Guinness (ein interessanter ‚Slip of the tongue’ ist übrigens die Verwechslung von französisch ‚travail’ = arbeiten und englisch „travel“ = reisen, was nicht heißt, dass alle englischen Arbeiter Busfahrer sind). Schließlich hatten die Barden keine Lust mehr, zu singen & zu musizieren, sondern beschränkten sich aufs trinken und gelegentlich eine kleine Geschichte aus den irischen Unabhängigkeitskriegen und Spitzfindigkeiten über die Unfähigkeit der Engländer, auf dem Oktoberfest Spaß zu haben – woran das nun aber wirklich liegt, konnte ich aus dem Mann aber nicht herausbekommen.
Auf dem Weg nach Hause, das heißt in mein Zimmer in meinem Hostel, überlegte ich, warum deutsche Folksmusik so bierselig und klischeehaft und langweilig sein muß, so dass jeder einigermaßen gebildete Hund das Weite sucht, und warum die Iren zwar genauso viel Bier trinken und die Texte auch so (irisch) klischeehaft sind, aber die Musik vom langweiligen genauso weit entfernt ist wie ein pint o’guinness von gebutterten Torfballen. Ich vermute, dass das daran liegt, dass die Iren nicht so stumpf-bierglasig in den Kneipen täglich die gleichen hurrahpatriotischen Rumptataphrasen deutscher spießbürgerlicher Schrebergärtenmentalitäten und konservativen Blümchentapetenwelten vor sich hin salbadern, sondern mit offenen Augen und offenem Geist unter ständiger Beobachtung anders gearteter Einflüsse ihre Tradition, die sie mit größerem Stolz und Erinnerung an größere Nöte als die unsere Betrachten können, bewahrt haben. Sie blicken mit milderen Augen auf die, die mit Füßen auf sie getreten haben, als wir auf die, die uns nur an den Füßen gekitzelt haben. Daraus entwickelte sich eine größere Neugier für jegliche Einflüsse und eine Mentalität, die sowohl Freude als auch Schmerz in objektiver und dadurch natürlicher Weiser wiedergeben kann, und eben das spiegelt sich auch in der Musik wider. Die Mädels sind noch nicht zu Hause, als ich zurückkehre (dass sie sich teilweise am Strand und teilweise in der Disco herumgetrieben haben, erfahre ich auch erst heute Morgen), folglich störe ich auch niemanden mit meinem Striptease und meiner Guinness-Fahne (schließlich bin ich auch nur ein Fremder in einem fremden Land). Die Nachteil weiblicher Mitbewohner lerne ich ebenfalls heute Morgen kennen – bis die Mädchen aus dem den Schlafzimmer angeschlossenen Badezimmer herauskamen, konnte ich frühstücken, ausgiebigen Stuhlgang genießen und meinen weiteren Weg für heute planen (und dabei vergnügt feststellen, dass auch Caro (die hübschere der Französinnen) kalt duschen musste, dieses aber mit Humor nahm und laut dabei sang). Nach eingehender Studie der Wanderkarte des nördlichen Teils Irlands entschloss ich mich, den Stop in Ballybofey auszulassen und gleich mit dem Galway – Derry Bus Eirann Express, der mich schon von Sligo nach Donegal gebracht hatte, nach Letterkenny zu reisen.
Hier also angekommen, leitete mich mein Instinkt auch gleich richtig in die Stadtmitte, wo ich in einer Tourist Information, oder besser einer Travelers Guidance Auskunft über die beiden Hostels hier bekam (welches der beiden Tourist Board Ireland approved ist, wusste sie zwar nicht – inzwischen glaube ich, dass es das andere sein muß) – und trotz detaillierter Wegbeschreibung lief ich daran vorbei, und fand mich auf der Ausfallstraße nach Derry gegenüber einer Essotankstelle wieder – ohne Zeichen einer Herberge in Sicht. Also kehrte ich um, noch einmal alle Gebäude auf der Suche nach einem Anzeichen absuchend – und siehe da, in einem Fenster, nur von diesem Blickpunkt auszumachen ein Schild „Hostel“ – freudig eintretend suchte ich mir eine verantwortliche Person unter den drei Anwesenden aus, der mir das letzte freie Bett im Hinterhof anbot (das allerletzte in Form einer Matratze auf dem Boden bekam dann ein nach mir ankommendes Mädchen) für 5 punt die Nacht – ein kleiner Abstieg vom Luxus in Donegal was die Qualität der Schlafstätte angeht, aber dafür 1/3 billiger, und Bett ist Bett und damit über jeden Zweifel (und jede Wiese ohnehin) erhaben. Der sich verantwortlich Fühlende sieht aus wie ein naher Verwandter von Frank Zappa, und Dalí-Poster neben Zappa-Postern und Jimi Hendrix an den Wänden deuten auch darauf hin, aber ihm gehört der Laden gar nicht und so weiß ich nicht, ob er sich für die Dekoration verantwortlich zeichnet. Der Sohn der Besitzerin zeigt ebenfalls Geschmack, spielt „In-a-gadda-da-vida“ in der langen Version (auch wenn er behauptet, dass dieses einer der dämlichsten Songs aller Zeiten ist – so dämlich, dass er schon wieder Klasse ist (und Drumsolos gehören prinzipiell verboten)), leider wird es kurz vor dem Drumsolo unterbrochen und lässt mich einmal die soeben erstandene neue Levellers-Maxi Hope St. Durchhören (irgendwie, der bisherigen Entwicklung folgend, mehr Stadion-orientiert, für die Levellers ungewöhnlich dominanter, fetter Gitarrensound (auch wenn „Leave This Town“ eher der Clash-Richtung folgt), trotzdem wird die am 28. d. M. erscheinende neu Platte „Zeitgeist“ (heißt wirklich nicht „Spirit of the age“) ein Pflichtkauf.
Nebenbei betrachtet gab es heute die ersten paar Tropfen Regen am 9. Tag in Irland – erstaunlich genug für mich (ich hörte heute, dass es der zweitheißeste Sommer seit 1865 (oder so) ist, wo es in Kilkenny 33°C warm war); aber nicht anhaltend und ertragreich genug, um Irlands zahlreiche Farmer ausreichend zu unterstützen.


Ein kleines Gedicht für niemanden im Speziellen

Die Gedanken tanzen umher
Folgen dem Licht das herum um Dich scheint
Der Erinnerung, die Dich und mich vereint
Die Trennung trifft Dich, vor allem mich schwer
Mein Auge eine Träne Dir nachweint
So weit entfernt

In der Fremde, von Dir getrennt
Durchwandere ich die Straßen ohne ein Ziel
Empfundene Freude des Neuen nur leeres Spiel
Meine Gefühle, von dir getrennt
Der Schmerz der Trennung, mein Wille nur labil
So weit entfernt

Bis ich zurückgekehrt bin
Und die Freuden Deines Körpers begrüßen mich
Alle Sehnsucht, alles Verlangen offenbart sich
Und das Warten erfüllt seinen Sinn
Nur noch 40 Stunden trennen mich
So weit entfernt


10. August
12. August


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