h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Von Gnomen und Baumgeistern.

IV/8/95

Heute morgen um 6 ist meine Uhr stehen geblieben – weiß wer auch immer warum – gestern in Dublin hab ich sie noch aufgezogen. Dann wollte mir mein Wecker weismachen, dass es schon zehn vor 9 wäre – also langsam Zeit, um aufzustehen und das £ 1.75-Breakfast unter den Nagel zu reißen – hab ich ihm natürlich nicht geglaubt, weil er ja noch auf Continental Time gestellt ist. Also noch mal umgedreht & im eigenen Schweiß fröhlich weitergeplanscht. Frühstück nett-irisch, zusammen mit `ner Schweizerin, die unbedingt ein Ticket für das Prodigy-Festival werden wollte („Do you think there is a chance I can become a ticket...“ & nem irischen Globetrotter, der angeblich gestern mit den Typen von Moby gesoffen hätte, und erst heute Morgen um 6 ins Hostel gekommen sei (jetzt weiß ich auch, warum meine Uhr stehengeblieben war) Der Kunsthandwerksladen mit der hübschen Anstecknadel hatte heute morgen um 9.50 genauso zu wie gestern Abend um 7pm – ziemlich schade, aber noch sind die Tage in Irland nicht vorbei. (Zur Not fahr ich halt noch mal hierhin – schließlich gibt’s hier ja auch EC-Automaten (Service Machines))
Das irische Eisenbahnticketsystem hat den offensichtlichen Vorteil, dass es noch die Karten mit den guten alten Knipsern entwerten lässt, und nicht mit Datumsstempeln – folglich können sie auch nicht die 10 Tage abstempeln, und ich kann zumindest schon 1 Tag länger als 10 damit fahren... wieder ein paar Mark gespart. Ist aber auch eindeutig schneller zu sehen, ob schon entwertet wurde – Loch ist Loch & kein Loch ist kein Loch, und bei einem etwas müden Farbband muß der Kontrolleur schon etwas genauer hinsehen, um entscheiden zu können, ob der Ausweis korrekt verwendet wird, oder 60 Mark für schwarzfahren fällig sind (übrigens weiß ich nicht, wie hoch diese Strafe in Irland ist, oder gibt es hier so etwas gar nicht?)
Killarney Youth Hostel – hübscher Umbau eines Schlosses aus dem 17. Jahrhundert – Innen noch schöne, aus massiven, kräftigen Holz reich geschnitzte Treppengeländer & natürlich absolutes, mit Todesstrafe geahndetes Rauchverbot, dazu mit braunem Tuch bezogene, schwere viktorianische Sessel, sehr gemütlich. Nur die Bibliothek lässt da doch arg zu wünschen übrig, was sowohl Qualität wie auch Quantität betrifft, was mir ein bärtiger Ire (haben nicht alle Iren über 50 Bärte?) bestätigen konnte. Draußen dann: Hektarweise 1a-Golfrasen, umgeben von herrschaftlichen Hochlaubgewächs, durchtrennt von weißen Kieswegen, inklusive Resten von mittelalterlichen Steinmauern, efeubewachsen & strikter Aufforderung, sein Fahrzeug nicht direkt vor den Eingang zu stellen. Aber auf dem Rasen darf man wohl liegen, zumindest werden weder gegenteilige Anweisungen auf Schildern noch mündlich verbreitet. Um die Ecke dann mehr oder weniger schadhaft erhalten, aber noch vollständig rekonstruierbar, eine Steinmauer, vermutlich auch Cromwellzeit, vielleicht noch älter, vermutlich als Schutzwall gegen eben jenen Oliver benutzt (und immerhin gegen Ende auch getrutzt)
Ich also los, nachdem ich so erfahren hatte, auf Spurensuche nach vergangenen, seit Jahrhunderten nicht entdeckten Relikten aus der Ritterszeit oder noch früher. In einem unbeobachteten Moment um die Ecke gestohlen, vorbei an weniger hübsch anzusehenden, mit alten Matratzen und anderem Schrott vollgestopften ehemaligen Wirtschaftsgebäuden des Landsitzes. Hindurch das nicht mehr vorhandene Tor , welches in den herrschaftlichen Wald hinausgeleitet, vorbei an zur Freude des Herrn angepflanzten Obststräuchern, welche zwischendurch und ab und an einen Blick auf eine einstmals fruchtbare, nun brachliegende Weidefläche gestatten, und über einen grasüberwucherten Feldweg hinein in den Wald. Die eben noch strahlende Sonne ist sofort mit dem Eintreten verschluckt, das dichtschließende Dach lenkt den Gedanken darauf, wie dunkel es wäre, herrschte draußen Dämmerung, nicht auszudenken, wenn es Nacht wäre. Trübes Zwielicht also, gerade hell genug, sämtliche Konturen der Bäume und des Unterholzes genau auszumachen. Verworren, knorrig, von unbekannten Händen mal in die eine, mal in die andere Richtung gekämmt, hier und dort tiefe Spalten vom über die meiste Strecke hinweg kaum 4 Fuß breiten Pfad ab in den Wald freigebend. Dennoch ist die Bedecktheit des Lichts nicht abstoßend oder furchterregend, es macht sich kein Gefühl der Angst vor etwas namenlosen, schrecklichen breit, welches dort im Finstern der Höhlen lauern könnte. Kurz darauf taucht der Steinwall aus dem Zwielicht auf, 3 Fuß hoch, unregelmäßig durch die Jahre, Eruptionen und fallendes Laub geworden. Moosbewachsen sind die Feldsteine, von lange vergessenen Händen Schicht für Schicht geschickt aufgetürmt, ohne Hilfe von Beton oder Mörtel die Jahrhunderte überdauert, ihren alten Zweck unfähig einzuhalten, dennoch verraten sie alles darüber. Mein Weg kreuzt die Mauer, und so verlasse ich ihn folge ich ihr nun, linker Hand weiter von dichtem Gehölz gesäumt, welches weiter seine Zweige zu einem dichten Dach über dem Wall ausstreckt, 4 Fuß weiter links fällt der Pfad mit der Mauer ab, doch wenig von ihrem Fuße entfernt sorgt die Vegetation auf ihre Weise dafür, daß der Schatten ein Zuwuchern des Weges und des Walles verhindert. Tiefer und tiefer in den Wald hinein folge ich der einzig möglichen Strecke, ständig auf- und abmäandernd, im gesamten allerdings stetig abfallend, und dadurch kaum merklich immer etwas weniger Licht abgebend. Dort streckt dann ein großer, vermutlich ebenfalls mehrere hundert Jahre alt, seine knorrige Wurzel hervor, so daß ich über ihn hinüber steigen muß, weil er inzwischen einen Spalt in die Mauer gerissen hat, und sein in vielen Facetten gewachsener Stamm macht aus meiner Perspektive beinahe den Eindruck, als hätte er tatsächlich ein Gesicht, welches mich aufgrund meines Trittes auf ihn mißbilligend anblickt, weitere Repressalien bleiben mir aber zum Glück erspart. Also lasse ich auch ihn hinter mir, und er folgt mir nicht, wie ich erleichtert durch eine Blick zurück feststelle, denn man soll schließlich nicht allen Bäumen trauen, auch wenn sie die meiste Zeit stillstehen, nach allem was man liest zumindest. An manchen Stellen, dort, wo etwas weniger Bäume am Fuße der Mauer stehen, scheint jetzt ein zaghafter Sonnenstrahl durch das Dach der Blätter hindurch, dringt aber selten bis zu mir hindurch, sondern verfängt sich in den Zweigen der Gewächse zu meiner linken, doch immerhin ein Lichtstrahl. Trotz allem hört der Pfad hört nicht auf, leicht abzufallen, und ich beginne mich zu fragen, ob er nicht bald beginnen will, eine Kurve in entweder nördlicher, südlicher oder himmelwärtiger Richtung zu beschreiben, ich bin jetzt wohl etwa 15 Minuten gerade und in gutem Marschtempo gewandert, und unter dem Ring of Kerry hatte ich mir schließlich etwas anderes als diesen Steinkreis vorgestellt. Plötzlich eine scharfe Wendung des Walles gen Norden: beinahe hätte ich es wegen der wieder zunehmenden Dunkelheit nicht rechtzeitig bemerkt und wäre von der Mauer gefallen, konnte es aber gerade noch vermeiden. Wieder stand mir ein Baum im Weg, direkt nach dem Knick, und ich muß mich dieses Mal förmlich um ihn herumschlängeln, woraufhin er unwirsch erzittert, doch streckt er keinen Arm aus, um mich festzuhalten, sondern läßt mich noch einmal passieren. Inzwischen ist es, trotz des offensichtlich vorhandenen Sonnenscheins, so dunkel, daß man gerade noch den Weg erkennen kann, um nicht hinabzufallen, wobei es natürlich pure Einbildung ist, daß die Bäume unten sich zu diesem Zwecke besonders dicht zusammengestellt haben. Langsamer werdend taste ich mich vorwärts, schließlich bin ich noch neugieriger geworden, was es denn mit dem alten Trutzwall auf sich hat. Doch da stolpere ich über etwas – wieder einmal eine gemein ausgestreckte Wurzel, wie es scheint. Ich falle vornüber und strecke die Hände aus, um den Aufprall weniger schmerzhaft zu gestalten - und werde, noch bevor ich am Boden angelangt bin, zwar rettend, doch schmerzhaft, weil mir dabei die Kehle abgeschnürt wird, von hinten am Kragen gepackt. Überrascht blicke ich auf, in einer etwas unbequemen Lage in der Luft hängend - und blicke in zwei matt-gelb leuchtende Augen, umrandet von einem im Zwielicht grau wirkenden, bei hellem betrachtet wahrscheinlich eher bräunlichen, mit starken, charakteristischen Falten durchzogenem Gesicht, ein mit schiefen, scharfen Zähnen geschmückter Mund, lange spitze Ohren und struwweliges, in alle Himmels- und Höllenrichtungen abstehendes schwarzes Haar. Ich bin im ersten Moment so perplex, daß mir nichts anderes einfällt als ein auch noch aus dem abrupt abgebrochenen Sturz resultierendes „urgh“, mehr kommt aus meiner abgewürgten Kehle ohnehin nicht, ich versuche also, meine soeben arbeitslos gemeldeten Hände wieder zu aktivieren, welche sich dann auch nicht lumpen lassen und sich als erste neue Arbeit sich an die Befreiung aus der Nackenklaue machen, was sich allerdings aufgrund der immensen Kraft meines Hintermannes, oder vielleicht auch eher Hinterbaumes, als nutzlos erweist. Ein Gedanke weiter führt dazu, daß meine momentan ebenfalls vakant in der Gegend herumschwankenden Beine sich aufmachen, wieder festen Boden unter den Füßen zu suchen, und da sie darin durchaus mit dem gewünschten und gewohnten Erfolg verwöhnt werden, wird auch der Druck auf meine Luftröhre geringer und ich kann wieder schlucken, auch wenn mich die Kralle deswegen noch lange nicht freigibt. Meine aufgerichtete Lage hat die Auswirkung, daß ich dem seltsamen Wesen nicht mehr in die Augen starren muß - doch ein schmerzhafter Tritt gegen mein Schienbein lässt seine Präsenz wieder voll in mein Bewusstsein stoßen, und ich senke meinen Kopf soweit, daß ich noch genug Luft zum Atmen und zum Sprechen bekomme, und trotzdem dem nicht viel mehr als drei Fuß großen Gnom in die Augen blicken kann. „What’s it going to be then, eh?“ fange ich an, da ich hoffnungsvoll annehme, daß er englisch versteht, auch wenn ich gelesen habe, daß solche eigentlichen Fabelwesen sehr alt sind, und es deshalb sein kann, daß er nur gälisch spricht, zumal ja heutzutage von weniger Treffen von Menschen und Gnomen berichtet wird. Leider sprechen ich nun kein gälisch, und so stand es möglicherweise zu befürchten, daß mir nach kurzer, fruchtloser Diskussion, in der keiner den anderen versteht, von einem verärgerten, wenn nicht gar zutiefst beleidigten 3-Fuß Gnom mit einem 1-Fuß Schwert der Kopf abgehackt würde, beziehungsweise aufgrund der mangelnden Größe die Eingeweide herausgepult würden. Doch der Gnom war literarisch voll auf der Höhe, und er antwortet „You are right - There are no strangers here, just friends you’ve never met“, schließlich war er ein irischer Gnom, und immerhin sprach er auch englisch, so dass meine erste Sorge sich vom sprachlichen Standpunkt in Luft auflösen konnte, und seine Replik macht mir auch Hoffnung auf eine friedlichere Möglichkeit als die befürchtete. Erwartungsvoll blickt er mich aus seinen gelben Augen an. „Where have you been, my yellow-eyed son?“, frage ich ihn, schließlich kam er ja wie aus dem Nichts. „I’ve met Polonius.“, erwiderte er und jagte mir einen leisen Schauer über den Rücken. Hätte ich bloß nicht gefragt! „At supper?“ fragte ich zaghaft, und mein eben noch gutes Gefühl beginnt dahinzuschwinden. Er nickt, „not where he eats, but where he’s eaten“. „So what’ll you do now, my yellow-eyed son?“, wagte ich mich vorsichtig zu erkundigen, verständlicherweise etwas ängstlich, daß mir ähnliches widerfahren könnte, zumal, wenn er gerade von seiner letzten Mahlzeit gesprochen hatte, auch ein Gnom nach über 500 Jahren langsam wieder Hunger bekommt. Und er antwortete, als wenn er die Speisekarte vorgelesen haben will: „O tell me all about ye, all about sweet Anna Liffey!“ Was sollte ich ihm dort antworten, sollte ich mich auf dem Silbertablett präsentieren? Also versuchte ich ein Ablenkungsmanöver und begann ganz vorne: “Riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay...“ und er fiel fasziniert ein: „... brings us by a commodius vicus of recirculation...“, und ich vollende:“ ... to Howth Castle and Environs.“ Ob er wußte, daß inzwischen jedes kleine Kind in Irland diesen Satz kennt? Fröhlich beginnt er umherzuhüpfen. „Sir Tristam, violer d’amores, fr’over the short sea ...“, und auch sein Partner hinter mir zuckte vergnügt mit den Zweigen und lockerte dabei merklich seinen Griff. „... to wielderfight his penisolate war...“ Immer ekstatischer werden die beiden, bis mich der Baum endlich losließ, und ich nutze die Gelegenheit um die Flucht nach vorn zu suchen, und der Gnom ließ mich passieren, also lief ich davon, den merklich steiler werdenden Pfad hinauf, und blickte mich vor der nächsten Kurve noch einmal um. Dort tanzten inzwischen über zwei Dutzend Gnome, Elfen, Trolle und Baumgeis-ter ausgelassen auf und neben der Mauer, sie schienen inzwi-schen bei „Humphrey Chimpden Earwicker“ angelangt zu sein, und kümmerten sich nicht mehr darum, ob ich nun bei ihnen war oder sie gar ein leckeres Abendessen verpaßt hatten, und ich kann mir auch gut verkneifen, zum Abschied noch „When shall we three meet again?“ hinabzurufen.
Komisches Völkchen, diese Sagengestalten, dachte ich, als ich wieder in die helle Augustsonne trat, nach der langen Dunkelheit geblendet. Aber Ahnung von Literatur haben sie, keine Frage.

3. August
5. August


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