h a u k e p r e u s s . d e   -   Geschichten   &   Horizonte

Halten sie bitte und schauen sie hier.

VIII/8/95

2. Überlegung zum echt irischen (am Strand von Achill Island liegend):
Ein kleiner Einsturz meines zuvor aufgebauten Gedankengebildes, aber dazu sind Thesen ja schließlich da, hier also die Antithese: irgendwo schwirrt der ‚irische Geist’, zumindest hier oben, doch immer in der Luft, wenn auch nicht im gemeinhin prognostizierten Ausmaß, aber langsam beginne ich mich hier richtig wohlzufühlen, so wohl, und vor allem so wundervoll von der Landschaft umrahmt, dass es mir nichts ausmacht, im Blickfeld eines (fast) Sandstrandes zu sitzen, inklusive schreiender badender Kinder, versteht sich. Groß ist er zwar nicht, dafür wirklich am Atlantik gelegen, wie in Italien oder sonst wo mit Autos vollgestellt, und umrahmt von phantastischen kargen, grau-grünen irischen schroffen Küstenbergen. Von jedem etwas quasi, trotzdem dominiert die herbe irische Seite des Ganzen. Kaum Wolken am Himmel (immer noch nichts von sagenumwobenen Regen hier mitbekommen) dennoch ist der Horizont landeinwärts nicht überall klar auszumachen, und auch die Gipfel der vier großen Berge auf Achill Island fischen leicht im trüben. Die Seeluft ist allerdings traumhaft, und die Möven gehen weitaus motivierter zu Werke als an der Elbe. Die Straßen hier sind wirklich so eng, dass es einiges Geschick im rangieren und gute Nerven erfordert, wenn ein Bus und ein Auto aneinander vorbei wollen, und wenn man Pech hat, dann fährt der Bus eben den Außenspiegel ab – aber so tragisch ist das dann auch wieder nicht. Achill ist nicht so abwechslungsreich in der Landschaft wie Connemara, der größte Teil der Insel, die Berge eingeschlossen, ist mit in dieser Jahreszeit naturgemäß nicht blühender Heide bewachsen, dazwischen kleinere Moore und Grasflächen, auf denen sich, wie anderswo auch, buntverstreut- und bemalt die Schafe tummeln – Zäune gibt es kaum, aber das stört die guten Hirten hier nicht sonderlich – kommt das Schaf nicht heute, dann kommt es eben morgen wieder – Zeit spielt in Irland nun mal keine allzu große Rolle. Die Moore werden noch heute ständig um des Grundstoffes Torf willen abgestochen – zum Trocknen aufgeschichtete Torfquader und charakteristischer Torfgeruch aus dem einen oder anderen Kamin (bei diesen hohen Temperaturen wird normalerweise sicher nicht geheizt, denn jeder Rohstoff muß hier natürlich eingespart werden) zeugen davon. Auch Achill ist an seiner Hauptstraße auf Tourismus ausgerichtet, speziell durch den Aufenthalt Heinrich Bölls auf der Insel und sein ‚Irisches Tagebuch’ auf die zahlreichen Deutschen (einige trauen sich sogar mit dem eigenen Auto herüber)
Der Sparladen bietet neben Filmentwickeln und Bureau de change sogar eine Abordnung der Deutschen Bundespost, und ein Restaurant mit eigener Schafschlachtung lädt auf deutsch ein: „Halten sie bitte und schauen sie her“, aber, durch die dünnere Besiedlung als auf dem irischen Festland bedingt, weniger aufdringlich und mehr herzlich. Es lässt sich auch vor dem flüchtigen Beobachter nicht verbergen, dass nicht wenige der Cottages am Straßenrand nicht nur länger leerstehen, sondern viele nur noch in den Grundmauern erhalten sind, ohne Dachstuhl und von Unkraut und den wenigen dort gedeihenden Sträuchern als einzigen Bewohnern überwuchert. Freimütig weist auch ein Schild darauf hin, dass es zur ‚Deserted Village’ von Keel aus nur einen Kilometer weit ist – ob es sich dabei um die von Böll beschriebene Geisterstadt, in den 40 oder 50 Jahren des vorigen Jahrhunderts während der großen Hungersnot handelt, ließ sich leider in der verbleibenden Zeit nicht feststellen. Die Vegetation ist, neben der erwähnten Heide, den Moosen und Grasen der Moorflächen weitgehend auf einige Wachholder und Kieferngewächse beschränkt, trotz der im Sommer hohen Temperaturen und für gewöhnlich reichen Niederschläge unterscheidet sich der Bewuchs nicht wesentlich von der nordischen Tundra – eindeutiges Zeichen für die Unfruchtbarkeit des Bodens, und daraus resultierend die Schwierigkeiten der Inselbewohner, aus diesem Untergrund genug Ertrag für den Lebensunterhalt zu gewinnen, also auch Verständnis für die Notwendigkeit, aus dem Tourismus den größtmöglichen Zuschlag zu dem dürftigen Einkommen zu erlangen.
Die Schafe laufen, wie erwähnt, frei und unsortiert durch die Hügel, Berge und Moore Achills, und haben in der Tat und verständlicherweise Vorfahrt, also muß das Auto oder der Bus eben warten, wenn das Schaf es sich in den dicken Kopf gesetzt hat, dass es mal ein wenig die Straße untersuchen will, ob da im grau nicht doch etwas zu fressen versteckt ist, oder es auf der anderen Straßenseite eine Pflanze entdeckt hat, die bestimmt noch besser schmeckt, als die auf der ihrigen, und es zwischendurch einen Kollegen getroffen hat, mit dem es über diese Möglichkeit diskutieren muß. Busfahrer von Linienbussen auf der Strecke Doagh – Westport sind nicht nur nervenstark & gut geschult, nebenbei fungieren sie auch als Reiseführer, was die schönsten Strände auf Achill angeht (in Doagh selber ist also nichts los, aber in Keel (ähnlich wie in Kiel) gibt es einen schönen Strand, wenn man eine Stunde auf der Insel rumhängen will) außerdem scheren sie sich nicht um Bushaltestellen, sondern halten auch sonst wo in der Walachei, wenn man nur den Arm ausstreckt und sagt, wo man hinwill. Gedanken lesen können sie im Allgemeinen allerdings nicht, und meckern auch schon mal alte Mütterchen aus, die das von ihnen verlangen – mitgenommen werden diese trotzdem.
Abgesehen aber von allen fähigen Busfahrern wagte ich mich dann doch in die etwas unwegsameren Gegenden der größten irischen Insel, auch wenn diese durch die Brücke über den Achill Sound eigentlich gar keine mehr ist (zumindest fällt es fast nicht mehr auf, daß man vom Festland auf die Insel übergetreten ist). Einem an einigen Stellen schwer auszumachenden Pfad folgend, schlängelte ich mich hoch und höher, dem nördlichen Berge immer näher gelangend. Hier mußte ich Obacht geben, um nicht in ein Moorloch zu stiefeln (auch wenn meine Stiefel nur darüber gelacht hätten, sind sie doch schließlich Luhe-erprobt), dort war ein Fußbreit neben dem Weg ein drei oder vier Meter tiefer Abgrund, in den zu fallen auch nicht eben die Erfüllung meiner Träume von Irland bedeutet hätte. Steil ging ich hangaufwärts, in der für Bergwanderer typischen 25° - Haltung (von den Stiefeln gemessen), und die Sonne brannte mir auf den Pelz, (der aus Baumwolle bestand), den Beutel mit der dürftigen Marschverpflegung und die für alle Fälle mitgenommenen Jacke (schließlich musste man in diesen Gefilden immer auf einen überraschenden Regenschauer gefasst sein) immer schwerer werdend in der Hand tragend. Jeder Blick um mich herum lohnte jedoch diese Anstrengung, offenbarten sich mir doch die herrlichsten Aussichten auf die malerische Hügellandschaft Achills, in grün und grau gehalten, immer wieder durch die sich als weiße Punkte darstellenden Schafe durchbrochen, wild und doch das Auge erfreuend anzuschauen. Vor mir baute sich hoch erhoben und doch sanft in seinen Konturen, der Gipfel leicht mit den um ihn herum schwebenden Wolken vermählt, des nordwärts weisenden Berges auf. Ich blickte zurück, und unter mir breitete sich das Tal aus, die sich wie eine Schlange von West nach Ost windende Straße, die weißen, grau-schwärzlich gedeckten Häuser von Keel an ihren Rändern, die sich sanft darauf zu erstreckenden Hänge. Es wurde Zeit umzukehren, denn der Bus würde mich zwar an jeder Stelle der Straße aufgabeln, aber nicht auf mich warten, während ich die Höhen der Berge bewanderte, und mir den gegebenen Umständen zufolge noch weniger hier oben hin folgen. Dennoch konnte ich mich nicht dazu entschließen, den Pfad abwärts einzuschlagen, irgend etwas zog mich weiter aufwärts, und die Zeit spielt hier, am Rande der Welt, ohnehin keine Rolle, ich würde schon auf dem einen oder anderen Wege wieder in ein warmes und sicheres Bett gelangen. Ich stieg also weiter bergaufwärts, den Rest Zivilisation, der noch unten im Tal seine Fühler ausstreckte, zu allen, die darauf angewiesen sein wollten, seinen gewohnten Gang gehen lassend. Der Pfad war weiterhin auszumachen, ausreichend, um auf ihm dem Ruf, von irgendwo, noch nicht genau feststellbar, auf meinen zwar das Bergsteigen nicht gewohnten, dennoch nicht müden Füßen, zu folgen. Ich war nun eine gute Stunde unterwegs, und es wurde nach und nach schwieriger, einen klaren Weg zu finden, auf der anderen Seite drang der Ruf, der mich hier oben hinauf steigen ließ, immer deutlicher zu mir, nicht zu meinen Ohren, nicht direkt zumindest, aber mein Geist konnte ihn vollkommen wahrnehmen, wenn auch noch immer nicht ganz begreifend. Doch inzwischen war ich gewillt, jegliches Risiko auf mich zu nehmen, um hinter den Ursprung dieses Rufes, der mich so zauberhaft dazu verleitete, diese Strapazen auf mich zu nehmen, zu gelangen. Deshalb stieg ich immer höher den mit zunehmender Wege steiler werdenden Berg hinauf, und wunderte mich, daß es auch in dieser Höhe so einfach schien, den steilen Bergpfad zu erklimmen. Die Luft hier oben war wirklich unvergleichlich; sie war so sauerstoffreich, daß es im wahrsten Sinne des Wortes erholsam war, tief einzuatmen, dennoch drang ein leichter, nur bei großer Konzentration wahrnehmbarer Seegeruch vom Atlantik her hinauf, der mich leicht schmerzhaft daran erinnerte, daß ich nicht hier oben losgelöst von allen Sphären meine Kreise zog. Der Berg beschrieb dann eine sanfte Wendung westwärts, und der Weg wurde damit eingehend etwas weniger steil, so daß meine Beine sich etwas entspannen konnten, und ich nutzte die günstige Gelegenheit, mich auf einen zufällig am Wegesrand stehenden Basaltstein zu setzen, die Jacke zu Boden sinken zu lassen, ebenso meinen Beutel mit der Marschverpflegung, zur Stärkung der Glieder und Gedanken eine Handvoll Goldgrain-Kekse und ein paar Schluck 7-up mir zu Gemüte zu führen. Derart gestärkt machte ich auf, den, so scheint es mir, letzten Teil des Weges aufzunehmen, auch wenn es noch einige Meter bis zum vermutlich auf diese Weise nicht besteigbaren Gipfel des Berges sind, aber die Quelle des Rufes schien mir nicht mehr sehr weit entfernt. Der Weg beschrieb jetzt eine scharfe Biegung nach nordwärts, um den Berg herum, und ich bemerkte, noch ein gutes Stück Weges entfernt, daß der Weg endete, aber ich konnte von hier aus noch nicht ausmachen, was der Grund für diesen abrupten Schluß sein konnte, also folgte ich dem Pfad weiter bis zu seinem bitteren Ende.
Es war nicht mehr sehr weit zu gehen, und ich stand vor einem Höhleneingang, nicht viel höher als einen Meter 80, also konnte ich gerade erhobenen Hauptes hindurchgehen, schließlich war ich nun gewillt, nach diesem Weg auch jegliches Risiko auf mich zu nehmen, um der Ursache des Rufes auf den Grund zu gehen. Nachdem sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnte ich erkennen, es sich um einen Gang, etwa zwei Meter in der Breite handelte, der sich in den Berg hinein erstreckte - wie tief vermochte ich noch nicht zu sagen. Mit den Händen tastend ging ich weiter meines Weges, bis schließlich ein rötliches Glühen meine Aufmerksamkeit erweckte. Ich lugte vorsichtig um die Ecke - und sah dort einen leibhaftigen Drachen liegen. Ich wollte mich eigentlich wieder um die Ecke schleichen, doch er hatte mich bereits erspäht, und seine mächtige Stimme befahl mir, zurückzukehren. „Was suchst du hier, Fremder“, fragte er mich auf Englisch. „Nun ja, eigentlich weiß ich selber gar nicht, was ich hier suche, irgendwas hat mich hierher gerufen“ antwortete ich, von der schläfrigen Gestalt des Drachens wohl nicht ausreichend beeindruckt, und er antwortete „dann kraule mir doch bitte den rechten Flügel, und ich werde dich einfach zum nächsten Busstop befördern“, und ich tat, wie mir geheißen, es war ein wenig schuppig, und ein bißchen faltig, aber eigentlich nicht unangenehm, und er seufzte zufrieden, und ich war plötzlich, den weiten Weg den Berg hinab gespart, an der Straße, genau richtig, um in den Bus nach Westport zu steigen. Eigentlich finde ich, daß man wirklich keine Angst vor Drachen haben muß - sie sind leicht zufrieden zustellen.

7. August
9. August


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